Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

der Unterwelt für ein solches gelten soll. Kein Hieb,
kein Schaufelwurf zeigte sich, keine Wagenspuren gingen
durch den Boden. Unter uns Wächtern entstand Streit
darüber, jeder beschuldigte den Andern, und am Ende
kam es zu Schlägen. Zuletzt jedoch vereinigte man sich,
dir, o König, den Vorgang auf der Stelle zu melden,
und mich traf dieses unselige Loos!" Kreon gerieth auf
diese Nachricht in großen Zorn, er bedrohte alle Wäch¬
ter, sie lebendig aufhängen zu lassen, wenn sie ihm den
Thäter nicht unverzüglich in die Hände lieferten. Diese
mußten auch auf seinen Befehl den Leichnam wieder von
aller Erde entblößen und hielten nach wie vor die Wache
bei demselben. So saßen sie vom Morgen bis zum Mit¬
tage im heißesten Sonnenschein. Da erhub sich plötzlich
ein Sturm und der Luftkreis füllte sich mit Staub. Die
Wächter besannen sich noch über das unerwartete Zeichen,
als sie eine Jungfrau herankommen sahen, die so weh¬
müthig wehklagte, wie ein Vogel, der sein Nest ausge¬
leert findet. Sie hatte in der Hand eine eherne Gie߬
kanne, die sie schnell mit Staub füllte, dann näherte sie
sich -- denn die Wächter, um von der Nähe des nun
schon so lang unbegraben daliegenden Leichnams nicht zu
leiden, saßen ziemlich ferne auf einem Hügel -- mit
Vorsicht der Leiche, und spendete dem Todten, anstatt
des Begräbnisses, einen dreifachen Aufguß von Erde. Da
zögerten die Wächter nicht länger, sie eilten herbei, griffen
sie und schleppten die auf der That selbst Ertappte vor
den zürnenden Herrscher.


der Unterwelt für ein ſolches gelten ſoll. Kein Hieb,
kein Schaufelwurf zeigte ſich, keine Wagenſpuren gingen
durch den Boden. Unter uns Wächtern entſtand Streit
darüber, jeder beſchuldigte den Andern, und am Ende
kam es zu Schlägen. Zuletzt jedoch vereinigte man ſich,
dir, o König, den Vorgang auf der Stelle zu melden,
und mich traf dieſes unſelige Loos!“ Kreon gerieth auf
dieſe Nachricht in großen Zorn, er bedrohte alle Wäch¬
ter, ſie lebendig aufhängen zu laſſen, wenn ſie ihm den
Thäter nicht unverzüglich in die Hände lieferten. Dieſe
mußten auch auf ſeinen Befehl den Leichnam wieder von
aller Erde entblößen und hielten nach wie vor die Wache
bei demſelben. So ſaßen ſie vom Morgen bis zum Mit¬
tage im heißeſten Sonnenſchein. Da erhub ſich plötzlich
ein Sturm und der Luftkreis füllte ſich mit Staub. Die
Wächter beſannen ſich noch über das unerwartete Zeichen,
als ſie eine Jungfrau herankommen ſahen, die ſo weh¬
müthig wehklagte, wie ein Vogel, der ſein Neſt ausge¬
leert findet. Sie hatte in der Hand eine eherne Gie߬
kanne, die ſie ſchnell mit Staub füllte, dann näherte ſie
ſich — denn die Wächter, um von der Nähe des nun
ſchon ſo lang unbegraben daliegenden Leichnams nicht zu
leiden, ſaßen ziemlich ferne auf einem Hügel — mit
Vorſicht der Leiche, und ſpendete dem Todten, anſtatt
des Begräbniſſes, einen dreifachen Aufguß von Erde. Da
zögerten die Wächter nicht länger, ſie eilten herbei, griffen
ſie und ſchleppten die auf der That ſelbſt Ertappte vor
den zürnenden Herrſcher.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0396" n="370"/>
der Unterwelt für ein &#x017F;olches gelten &#x017F;oll. Kein Hieb,<lb/>
kein Schaufelwurf zeigte &#x017F;ich, keine Wagen&#x017F;puren gingen<lb/>
durch den Boden. Unter uns Wächtern ent&#x017F;tand Streit<lb/>
darüber, jeder be&#x017F;chuldigte den Andern, und am Ende<lb/>
kam es zu Schlägen. Zuletzt jedoch vereinigte man &#x017F;ich,<lb/>
dir, o König, den Vorgang auf der Stelle zu melden,<lb/>
und mich traf die&#x017F;es un&#x017F;elige Loos!&#x201C; Kreon gerieth auf<lb/>
die&#x017F;e Nachricht in großen Zorn, er bedrohte alle Wäch¬<lb/>
ter, &#x017F;ie lebendig aufhängen zu la&#x017F;&#x017F;en, wenn &#x017F;ie ihm den<lb/>
Thäter nicht unverzüglich in die Hände lieferten. Die&#x017F;e<lb/>
mußten auch auf &#x017F;einen Befehl den Leichnam wieder von<lb/>
aller Erde entblößen und hielten nach wie vor die Wache<lb/>
bei dem&#x017F;elben. So &#x017F;aßen &#x017F;ie vom Morgen bis zum Mit¬<lb/>
tage im heiße&#x017F;ten Sonnen&#x017F;chein. Da erhub &#x017F;ich plötzlich<lb/>
ein Sturm und der Luftkreis füllte &#x017F;ich mit Staub. Die<lb/>
Wächter be&#x017F;annen &#x017F;ich noch über das unerwartete Zeichen,<lb/>
als &#x017F;ie eine Jungfrau herankommen &#x017F;ahen, die &#x017F;o weh¬<lb/>
müthig wehklagte, wie ein Vogel, der &#x017F;ein Ne&#x017F;t ausge¬<lb/>
leert findet. Sie hatte in der Hand eine eherne Gie߬<lb/>
kanne, die &#x017F;ie &#x017F;chnell mit Staub füllte, dann näherte &#x017F;ie<lb/>
&#x017F;ich &#x2014; denn die Wächter, um von der Nähe des nun<lb/>
&#x017F;chon &#x017F;o lang unbegraben daliegenden Leichnams nicht zu<lb/>
leiden, &#x017F;aßen ziemlich ferne auf einem Hügel &#x2014; mit<lb/>
Vor&#x017F;icht der Leiche, und &#x017F;pendete dem Todten, an&#x017F;tatt<lb/>
des Begräbni&#x017F;&#x017F;es, einen dreifachen Aufguß von Erde. Da<lb/>
zögerten die Wächter nicht länger, &#x017F;ie eilten herbei, griffen<lb/>
&#x017F;ie und &#x017F;chleppten die auf der That &#x017F;elb&#x017F;t Ertappte vor<lb/>
den zürnenden Herr&#x017F;cher.</p><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[370/0396] der Unterwelt für ein ſolches gelten ſoll. Kein Hieb, kein Schaufelwurf zeigte ſich, keine Wagenſpuren gingen durch den Boden. Unter uns Wächtern entſtand Streit darüber, jeder beſchuldigte den Andern, und am Ende kam es zu Schlägen. Zuletzt jedoch vereinigte man ſich, dir, o König, den Vorgang auf der Stelle zu melden, und mich traf dieſes unſelige Loos!“ Kreon gerieth auf dieſe Nachricht in großen Zorn, er bedrohte alle Wäch¬ ter, ſie lebendig aufhängen zu laſſen, wenn ſie ihm den Thäter nicht unverzüglich in die Hände lieferten. Dieſe mußten auch auf ſeinen Befehl den Leichnam wieder von aller Erde entblößen und hielten nach wie vor die Wache bei demſelben. So ſaßen ſie vom Morgen bis zum Mit¬ tage im heißeſten Sonnenſchein. Da erhub ſich plötzlich ein Sturm und der Luftkreis füllte ſich mit Staub. Die Wächter beſannen ſich noch über das unerwartete Zeichen, als ſie eine Jungfrau herankommen ſahen, die ſo weh¬ müthig wehklagte, wie ein Vogel, der ſein Neſt ausge¬ leert findet. Sie hatte in der Hand eine eherne Gie߬ kanne, die ſie ſchnell mit Staub füllte, dann näherte ſie ſich — denn die Wächter, um von der Nähe des nun ſchon ſo lang unbegraben daliegenden Leichnams nicht zu leiden, ſaßen ziemlich ferne auf einem Hügel — mit Vorſicht der Leiche, und ſpendete dem Todten, anſtatt des Begräbniſſes, einen dreifachen Aufguß von Erde. Da zögerten die Wächter nicht länger, ſie eilten herbei, griffen ſie und ſchleppten die auf der That ſelbſt Ertappte vor den zürnenden Herrſcher.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/396
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 370. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/396>, abgerufen am 20.04.2024.