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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

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der ganzen Stadt bejammert, daß ihre Handlung von
der ganzen Bürgerschaft als werth des Nachruhms ge¬
priesen wird, daß niemand glaubt, sie, die fromme Schwe¬
ster, die ihren Bruder nicht von Hunden und Vögeln
zerfleischen ließ, habe den Tod als Lohn verdient! Darum,
geliebter Vater, gib der Stimme des Volkes nach; thu
es den Bäumen gleich, die längs dem angeschwollenen
Waldstrome gepflanzt, sich ihm nicht entgegenstemmen,
sondern der Gewalt des Wassers nachgeben und unver¬
letzt bleiben, während diejenigen Bäume, die es wagen,
Widerstand zu leisten, durch die Wellen von Grund aus
entwurzelt werden." -- "Will der Knabe mich Verstand
lehren?" rief Kreon verächtlich aus; "es scheint, er kämpft
im Bunde mit dem Weib!" -- "Ja, wenn du ein Weib
bist!" -- antwortete der Jüngling schnell und lebhaft --
"denn nur zu Deinem Besten ist dieß Alles gesagt!" --
"Ich merke wohl," endete der Vater entrüstet, "blinde
Liebe zu der Verbrecherin hält deinen Sinn in Banden:
aber lebendig wirst du diese nicht freien! Denn wisse:
ferne, wo keine Menschentritte schallen, soll sie bei leben¬
dem Leibe in einem verschlossenen Felsengrabe geborgen
werden. Nur wenig Speise wird ihr mitgegeben, so
viel, als nöthig ist, die Stadt vor der Befleckung zu
bewahren, die der Greuel eines unmittelbaren Mordes
ihr zuziehen würde. Mag sie dann von dem Gotte der
Unterwelt, den sie doch allein ehrt, sich Befreiung erfle¬
hen; zu spät wird sie erkennen, daß es klüger ist, den
Lebenden zu gehorchen, als den Todten."

Zornig wandte sich Kreon mit diesen Worten von
seinem Sohne ab, und bald waren alle Anstalten ge¬
troffen, den gräßlichen Beschluß des Tyrannen zu voll¬

der ganzen Stadt bejammert, daß ihre Handlung von
der ganzen Bürgerſchaft als werth des Nachruhms ge¬
prieſen wird, daß niemand glaubt, ſie, die fromme Schwe¬
ſter, die ihren Bruder nicht von Hunden und Vögeln
zerfleiſchen ließ, habe den Tod als Lohn verdient! Darum,
geliebter Vater, gib der Stimme des Volkes nach; thu
es den Bäumen gleich, die längs dem angeſchwollenen
Waldſtrome gepflanzt, ſich ihm nicht entgegenſtemmen,
ſondern der Gewalt des Waſſers nachgeben und unver¬
letzt bleiben, während diejenigen Bäume, die es wagen,
Widerſtand zu leiſten, durch die Wellen von Grund aus
entwurzelt werden.“ — „Will der Knabe mich Verſtand
lehren?“ rief Kreon verächtlich aus; „es ſcheint, er kämpft
im Bunde mit dem Weib!“ — „Ja, wenn du ein Weib
biſt!“ — antwortete der Jüngling ſchnell und lebhaft —
„denn nur zu Deinem Beſten iſt dieß Alles geſagt!“ —
„Ich merke wohl,“ endete der Vater entrüſtet, „blinde
Liebe zu der Verbrecherin hält deinen Sinn in Banden:
aber lebendig wirſt du dieſe nicht freien! Denn wiſſe:
ferne, wo keine Menſchentritte ſchallen, ſoll ſie bei leben¬
dem Leibe in einem verſchloſſenen Felſengrabe geborgen
werden. Nur wenig Speiſe wird ihr mitgegeben, ſo
viel, als nöthig iſt, die Stadt vor der Befleckung zu
bewahren, die der Greuel eines unmittelbaren Mordes
ihr zuziehen würde. Mag ſie dann von dem Gotte der
Unterwelt, den ſie doch allein ehrt, ſich Befreiung erfle¬
hen; zu ſpät wird ſie erkennen, daß es klüger iſt, den
Lebenden zu gehorchen, als den Todten.“

Zornig wandte ſich Kreon mit dieſen Worten von
ſeinem Sohne ab, und bald waren alle Anſtalten ge¬
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[373/0399] der ganzen Stadt bejammert, daß ihre Handlung von der ganzen Bürgerſchaft als werth des Nachruhms ge¬ prieſen wird, daß niemand glaubt, ſie, die fromme Schwe¬ ſter, die ihren Bruder nicht von Hunden und Vögeln zerfleiſchen ließ, habe den Tod als Lohn verdient! Darum, geliebter Vater, gib der Stimme des Volkes nach; thu es den Bäumen gleich, die längs dem angeſchwollenen Waldſtrome gepflanzt, ſich ihm nicht entgegenſtemmen, ſondern der Gewalt des Waſſers nachgeben und unver¬ letzt bleiben, während diejenigen Bäume, die es wagen, Widerſtand zu leiſten, durch die Wellen von Grund aus entwurzelt werden.“ — „Will der Knabe mich Verſtand lehren?“ rief Kreon verächtlich aus; „es ſcheint, er kämpft im Bunde mit dem Weib!“ — „Ja, wenn du ein Weib biſt!“ — antwortete der Jüngling ſchnell und lebhaft — „denn nur zu Deinem Beſten iſt dieß Alles geſagt!“ — „Ich merke wohl,“ endete der Vater entrüſtet, „blinde Liebe zu der Verbrecherin hält deinen Sinn in Banden: aber lebendig wirſt du dieſe nicht freien! Denn wiſſe: ferne, wo keine Menſchentritte ſchallen, ſoll ſie bei leben¬ dem Leibe in einem verſchloſſenen Felſengrabe geborgen werden. Nur wenig Speiſe wird ihr mitgegeben, ſo viel, als nöthig iſt, die Stadt vor der Befleckung zu bewahren, die der Greuel eines unmittelbaren Mordes ihr zuziehen würde. Mag ſie dann von dem Gotte der Unterwelt, den ſie doch allein ehrt, ſich Befreiung erfle¬ hen; zu ſpät wird ſie erkennen, daß es klüger iſt, den Lebenden zu gehorchen, als den Todten.“ Zornig wandte ſich Kreon mit dieſen Worten von ſeinem Sohne ab, und bald waren alle Anſtalten ge¬ troffen, den gräßlichen Beſchluß des Tyrannen zu voll¬

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 373. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/399>, abgerufen am 23.04.2024.