Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

der Mißstalteten den menschlichen Leib zurückzugeben.
Jupiter eilte zur Erde nieder und an den Nil. Hier
strich er der Kuh mit der Hand über den Rücken: da
war es wunderbar anzuschauen. Die Zotteln flohen vom
Leibe des Thieres, das Gehörn schrumpfte zusammen, die
Scheibe der Augen verengte sich, das Maul zog sich zu
Lippen zusammen, Schultern und Hände kehrten wieder,
die Klauen verschwanden, nichts blieb von der Kuh übrig
als die schöne weiße Farbe. In ganz verwandelter Ge¬
stalt erhob sich Io vom Boden und stand aufrecht in
menschlicher Schönheit leuchtend. Am Nilstrome gebar
sie dem Jupiter den Epaphus, und weil das Volk die
wunderbar Verwandelte und Errettete göttergleich ehrte,
so herrschte sie lange mit Fürstengewalt über jene Lande.
Doch blieb sie auch so nicht ganz von Juno's Zorne ver¬
schont. Diese stiftete das wilde Volk der Kureten auf,
ihren jungen Sohn Epaphus zu entführen, und nun
trat sie aufs neue eine lange vergebliche Wanderung an,
den Geraubten aufzusuchen. Endlich, nachdem Jupiter
die Kureten mit dem Blitz erschlagen, fand sie den ent¬
führten Sohn an der Gränze Aethiopiens wieder, kehrte
mit ihm nach Aegypten zurück und ließ ihn an ihrer
Seite herrschen. Er heirathete die Memphis, und diese
gebar ihm Libya, von der das Land Libyen den Namen
erhielt. Mutter und Sohn wurden von dem Nilvolke
nach beider Tode mit Tempeln geehrt, und erhielten, sie
als Isis, er als Apis, göttliche Verehrung.


der Mißſtalteten den menſchlichen Leib zurückzugeben.
Jupiter eilte zur Erde nieder und an den Nil. Hier
ſtrich er der Kuh mit der Hand über den Rücken: da
war es wunderbar anzuſchauen. Die Zotteln flohen vom
Leibe des Thieres, das Gehörn ſchrumpfte zuſammen, die
Scheibe der Augen verengte ſich, das Maul zog ſich zu
Lippen zuſammen, Schultern und Hände kehrten wieder,
die Klauen verſchwanden, nichts blieb von der Kuh übrig
als die ſchöne weiße Farbe. In ganz verwandelter Ge¬
ſtalt erhob ſich Io vom Boden und ſtand aufrecht in
menſchlicher Schönheit leuchtend. Am Nilſtrome gebar
ſie dem Jupiter den Epaphus, und weil das Volk die
wunderbar Verwandelte und Errettete göttergleich ehrte,
ſo herrſchte ſie lange mit Fürſtengewalt über jene Lande.
Doch blieb ſie auch ſo nicht ganz von Juno's Zorne ver¬
ſchont. Dieſe ſtiftete das wilde Volk der Kureten auf,
ihren jungen Sohn Epaphus zu entführen, und nun
trat ſie aufs neue eine lange vergebliche Wanderung an,
den Geraubten aufzuſuchen. Endlich, nachdem Jupiter
die Kureten mit dem Blitz erſchlagen, fand ſie den ent¬
führten Sohn an der Gränze Aethiopiens wieder, kehrte
mit ihm nach Aegypten zurück und ließ ihn an ihrer
Seite herrſchen. Er heirathete die Memphis, und dieſe
gebar ihm Libya, von der das Land Libyen den Namen
erhielt. Mutter und Sohn wurden von dem Nilvolke
nach beider Tode mit Tempeln geehrt, und erhielten, ſie
als Iſis, er als Apis, göttliche Verehrung.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0054" n="28"/>
der Miß&#x017F;talteten den men&#x017F;chlichen Leib zurückzugeben.<lb/>
Jupiter eilte zur Erde nieder und an den Nil. Hier<lb/>
&#x017F;trich er der Kuh mit der Hand über den Rücken: da<lb/>
war es wunderbar anzu&#x017F;chauen. Die Zotteln flohen vom<lb/>
Leibe des Thieres, das Gehörn &#x017F;chrumpfte zu&#x017F;ammen, die<lb/>
Scheibe der Augen verengte &#x017F;ich, das Maul zog &#x017F;ich zu<lb/>
Lippen zu&#x017F;ammen, Schultern und Hände kehrten wieder,<lb/>
die Klauen ver&#x017F;chwanden, nichts blieb von der Kuh übrig<lb/>
als die &#x017F;chöne weiße Farbe. In ganz verwandelter Ge¬<lb/>
&#x017F;talt erhob &#x017F;ich Io vom Boden und &#x017F;tand aufrecht in<lb/>
men&#x017F;chlicher Schönheit leuchtend. Am Nil&#x017F;trome gebar<lb/>
&#x017F;ie dem Jupiter den Epaphus, und weil das Volk die<lb/>
wunderbar Verwandelte und Errettete göttergleich ehrte,<lb/>
&#x017F;o herr&#x017F;chte &#x017F;ie lange mit Für&#x017F;tengewalt über jene Lande.<lb/>
Doch blieb &#x017F;ie auch &#x017F;o nicht ganz von Juno's Zorne ver¬<lb/>
&#x017F;chont. Die&#x017F;e &#x017F;tiftete das wilde Volk der Kureten auf,<lb/>
ihren jungen Sohn Epaphus zu entführen, und nun<lb/>
trat &#x017F;ie aufs neue eine lange vergebliche Wanderung an,<lb/>
den Geraubten aufzu&#x017F;uchen. Endlich, nachdem Jupiter<lb/>
die Kureten mit dem Blitz er&#x017F;chlagen, fand &#x017F;ie den ent¬<lb/>
führten Sohn an der Gränze Aethiopiens wieder, kehrte<lb/>
mit ihm nach Aegypten zurück und ließ ihn an ihrer<lb/>
Seite herr&#x017F;chen. Er heirathete die Memphis, und die&#x017F;e<lb/>
gebar ihm Libya, von der das Land Libyen den Namen<lb/>
erhielt. Mutter und Sohn wurden von dem Nilvolke<lb/>
nach beider Tode mit Tempeln geehrt, und erhielten, &#x017F;ie<lb/>
als I&#x017F;is, er als Apis, göttliche Verehrung.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[28/0054] der Mißſtalteten den menſchlichen Leib zurückzugeben. Jupiter eilte zur Erde nieder und an den Nil. Hier ſtrich er der Kuh mit der Hand über den Rücken: da war es wunderbar anzuſchauen. Die Zotteln flohen vom Leibe des Thieres, das Gehörn ſchrumpfte zuſammen, die Scheibe der Augen verengte ſich, das Maul zog ſich zu Lippen zuſammen, Schultern und Hände kehrten wieder, die Klauen verſchwanden, nichts blieb von der Kuh übrig als die ſchöne weiße Farbe. In ganz verwandelter Ge¬ ſtalt erhob ſich Io vom Boden und ſtand aufrecht in menſchlicher Schönheit leuchtend. Am Nilſtrome gebar ſie dem Jupiter den Epaphus, und weil das Volk die wunderbar Verwandelte und Errettete göttergleich ehrte, ſo herrſchte ſie lange mit Fürſtengewalt über jene Lande. Doch blieb ſie auch ſo nicht ganz von Juno's Zorne ver¬ ſchont. Dieſe ſtiftete das wilde Volk der Kureten auf, ihren jungen Sohn Epaphus zu entführen, und nun trat ſie aufs neue eine lange vergebliche Wanderung an, den Geraubten aufzuſuchen. Endlich, nachdem Jupiter die Kureten mit dem Blitz erſchlagen, fand ſie den ent¬ führten Sohn an der Gränze Aethiopiens wieder, kehrte mit ihm nach Aegypten zurück und ließ ihn an ihrer Seite herrſchen. Er heirathete die Memphis, und dieſe gebar ihm Libya, von der das Land Libyen den Namen erhielt. Mutter und Sohn wurden von dem Nilvolke nach beider Tode mit Tempeln geehrt, und erhielten, ſie als Iſis, er als Apis, göttliche Verehrung.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/54
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 28. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/54>, abgerufen am 25.04.2024.