Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

So sprach er; da legte Phöbus die Strahlen, die ihm
rings das Haupt umleuchten, ab, und hieß ihn näher
herantreten; dann umarmte er ihn und sprach: "deine
Mutter Klymene hat die Wahrheit gesagt, mein Sohn, und
ich werde dich vor der Welt nimmermehr verläugnen.
Damit du aber ja nicht ferner zweifelst, so erbitte dir
ein Geschenk! Ich schwöre beim Styx, dem Flusse der
Unterwelt, bei welchem alle Götter schwören, deine Bitte,
welche sie auch sey, soll dir erfüllt werden!" Phaethon ließ
den Vater kaum ausreden. "So erfülle mir denn, sprach
er, meinen glühendsten Wunsch, und vertraue mir nur auf
einen Tag die Lenkung deines geflügelten Sonnenwagens."

Schrecken und Reue ward sichtbar auf dem Ange¬
sichte des Gottes. Drei, viermal schüttelte er sein um¬
leuchtetes Haupt und rief endlich: "O Sohn, du hast
mich ein sinnloses Wort sprechen lassen! O dürfte ich
dir doch meine Verheißung nimmermehr gewähren! Du
verlangst ein Geschäft, dem deine Kräfte nicht gewachsen
sind; du bist zu jung; du bist sterblich, und was du
wünschest, ist ein Werk der Unsterblichen! Ja, du erstre¬
best sogar mehr, als den übrigen Göttern zu erlangen
vergönnt ist. Denn ausser mir vermag keiner von ihnen
auf der gluthensprühenden Axe zu stehen. Der Weg, den
mein Wagen zu machen hat, ist gar steil, mit Mühe er¬
klimmt ihn in der Frühe des Morgens mein noch frisches
Rossegespann. Die Mitte der Laufbahn ist zu oberst am
Himmel. Glaube mir, wenn ich auf meinem Wagen in
solcher Höhe stehe, da kommt mich oft selbst ein Grausen
an und mein Haupt droht ein Schwindel zu fassen, wenn
ich so herniederblicke in die Tiefe, und Meer und Land
weit unter mir liegt. Zuletzt ist dann die Straße ganz

So ſprach er; da legte Phöbus die Strahlen, die ihm
rings das Haupt umleuchten, ab, und hieß ihn näher
herantreten; dann umarmte er ihn und ſprach: „deine
Mutter Klymene hat die Wahrheit geſagt, mein Sohn, und
ich werde dich vor der Welt nimmermehr verläugnen.
Damit du aber ja nicht ferner zweifelſt, ſo erbitte dir
ein Geſchenk! Ich ſchwöre beim Styx, dem Fluſſe der
Unterwelt, bei welchem alle Götter ſchwören, deine Bitte,
welche ſie auch ſey, ſoll dir erfüllt werden!“ Phaethon ließ
den Vater kaum ausreden. „So erfülle mir denn, ſprach
er, meinen glühendſten Wunſch, und vertraue mir nur auf
einen Tag die Lenkung deines geflügelten Sonnenwagens.“

Schrecken und Reue ward ſichtbar auf dem Ange¬
ſichte des Gottes. Drei, viermal ſchüttelte er ſein um¬
leuchtetes Haupt und rief endlich: „O Sohn, du haſt
mich ein ſinnloſes Wort ſprechen laſſen! O dürfte ich
dir doch meine Verheißung nimmermehr gewähren! Du
verlangſt ein Geſchäft, dem deine Kräfte nicht gewachſen
ſind; du biſt zu jung; du biſt ſterblich, und was du
wünſcheſt, iſt ein Werk der Unſterblichen! Ja, du erſtre¬
beſt ſogar mehr, als den übrigen Göttern zu erlangen
vergönnt iſt. Denn auſſer mir vermag keiner von ihnen
auf der gluthenſprühenden Axe zu ſtehen. Der Weg, den
mein Wagen zu machen hat, iſt gar ſteil, mit Mühe er¬
klimmt ihn in der Frühe des Morgens mein noch friſches
Roſſegeſpann. Die Mitte der Laufbahn iſt zu oberſt am
Himmel. Glaube mir, wenn ich auf meinem Wagen in
ſolcher Höhe ſtehe, da kommt mich oft ſelbſt ein Grauſen
an und mein Haupt droht ein Schwindel zu faſſen, wenn
ich ſo herniederblicke in die Tiefe, und Meer und Land
weit unter mir liegt. Zuletzt iſt dann die Straße ganz

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0056" n="30"/>
So &#x017F;prach er; da legte Phöbus die Strahlen, die ihm<lb/>
rings das Haupt umleuchten, ab, und hieß ihn näher<lb/>
herantreten; dann umarmte er ihn und &#x017F;prach: &#x201E;deine<lb/>
Mutter Klymene hat die Wahrheit ge&#x017F;agt, mein Sohn, und<lb/>
ich werde dich vor der Welt nimmermehr verläugnen.<lb/>
Damit du aber ja nicht ferner zweifel&#x017F;t, &#x017F;o erbitte dir<lb/>
ein Ge&#x017F;chenk! Ich &#x017F;chwöre beim Styx, dem Flu&#x017F;&#x017F;e der<lb/>
Unterwelt, bei welchem alle Götter &#x017F;chwören, deine Bitte,<lb/>
welche &#x017F;ie auch &#x017F;ey, &#x017F;oll dir erfüllt werden!&#x201C; Phaethon ließ<lb/>
den Vater kaum ausreden. &#x201E;So erfülle mir denn, &#x017F;prach<lb/>
er, meinen glühend&#x017F;ten Wun&#x017F;ch, und vertraue mir nur auf<lb/>
einen Tag die Lenkung deines geflügelten Sonnenwagens.&#x201C;</p><lb/>
          <p>Schrecken und Reue ward &#x017F;ichtbar auf dem Ange¬<lb/>
&#x017F;ichte des Gottes. Drei, viermal &#x017F;chüttelte er &#x017F;ein um¬<lb/>
leuchtetes Haupt und rief endlich: &#x201E;O Sohn, du ha&#x017F;t<lb/>
mich ein &#x017F;innlo&#x017F;es Wort &#x017F;prechen la&#x017F;&#x017F;en! O dürfte ich<lb/>
dir doch meine Verheißung nimmermehr gewähren! Du<lb/>
verlang&#x017F;t ein Ge&#x017F;chäft, dem deine Kräfte nicht gewach&#x017F;en<lb/>
&#x017F;ind; du bi&#x017F;t zu jung; du bi&#x017F;t &#x017F;terblich, und was du<lb/>
wün&#x017F;che&#x017F;t, i&#x017F;t ein Werk der Un&#x017F;terblichen! Ja, du er&#x017F;tre¬<lb/>
be&#x017F;t &#x017F;ogar mehr, als den übrigen Göttern zu erlangen<lb/>
vergönnt i&#x017F;t. Denn au&#x017F;&#x017F;er mir vermag keiner von ihnen<lb/>
auf der gluthen&#x017F;prühenden Axe zu &#x017F;tehen. Der Weg, den<lb/>
mein Wagen zu machen hat, i&#x017F;t gar &#x017F;teil, mit Mühe er¬<lb/>
klimmt ihn in der Frühe des Morgens mein noch fri&#x017F;ches<lb/>
Ro&#x017F;&#x017F;ege&#x017F;pann. Die Mitte der Laufbahn i&#x017F;t zu ober&#x017F;t am<lb/>
Himmel. Glaube mir, wenn ich auf meinem Wagen in<lb/>
&#x017F;olcher Höhe &#x017F;tehe, da kommt mich oft &#x017F;elb&#x017F;t ein Grau&#x017F;en<lb/>
an und mein Haupt droht ein Schwindel zu fa&#x017F;&#x017F;en, wenn<lb/>
ich &#x017F;o herniederblicke in die Tiefe, und Meer und Land<lb/>
weit unter mir liegt. Zuletzt i&#x017F;t dann die Straße ganz<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[30/0056] So ſprach er; da legte Phöbus die Strahlen, die ihm rings das Haupt umleuchten, ab, und hieß ihn näher herantreten; dann umarmte er ihn und ſprach: „deine Mutter Klymene hat die Wahrheit geſagt, mein Sohn, und ich werde dich vor der Welt nimmermehr verläugnen. Damit du aber ja nicht ferner zweifelſt, ſo erbitte dir ein Geſchenk! Ich ſchwöre beim Styx, dem Fluſſe der Unterwelt, bei welchem alle Götter ſchwören, deine Bitte, welche ſie auch ſey, ſoll dir erfüllt werden!“ Phaethon ließ den Vater kaum ausreden. „So erfülle mir denn, ſprach er, meinen glühendſten Wunſch, und vertraue mir nur auf einen Tag die Lenkung deines geflügelten Sonnenwagens.“ Schrecken und Reue ward ſichtbar auf dem Ange¬ ſichte des Gottes. Drei, viermal ſchüttelte er ſein um¬ leuchtetes Haupt und rief endlich: „O Sohn, du haſt mich ein ſinnloſes Wort ſprechen laſſen! O dürfte ich dir doch meine Verheißung nimmermehr gewähren! Du verlangſt ein Geſchäft, dem deine Kräfte nicht gewachſen ſind; du biſt zu jung; du biſt ſterblich, und was du wünſcheſt, iſt ein Werk der Unſterblichen! Ja, du erſtre¬ beſt ſogar mehr, als den übrigen Göttern zu erlangen vergönnt iſt. Denn auſſer mir vermag keiner von ihnen auf der gluthenſprühenden Axe zu ſtehen. Der Weg, den mein Wagen zu machen hat, iſt gar ſteil, mit Mühe er¬ klimmt ihn in der Frühe des Morgens mein noch friſches Roſſegeſpann. Die Mitte der Laufbahn iſt zu oberſt am Himmel. Glaube mir, wenn ich auf meinem Wagen in ſolcher Höhe ſtehe, da kommt mich oft ſelbſt ein Grauſen an und mein Haupt droht ein Schwindel zu faſſen, wenn ich ſo herniederblicke in die Tiefe, und Meer und Land weit unter mir liegt. Zuletzt iſt dann die Straße ganz

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/56
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/56>, abgerufen am 29.03.2024.