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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

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den Pforten des Tempels niedersetzte und den Deckel des
Korbes öffnete, damit das Kind bemerklich würde. Dieß
geschah bei Nacht. Am andern Morgen, als schon die
Sonne emporstieg, kam die Delphische Priesterin nach
dem Tempel geschritten, und als sie ihn betreten wollte,
fiel ihr Auge auf das neugeborne Kind, das in der Kiste
schlummerte. Sie hielt dasselbe für die Frucht irgend
eines Verbrechens und war schon geneigt, es von der
heiligen Schwelle fortzustoßen, als das Mitleid doch in
ihrer Seele die Oberhand gewann, denn der Gott wandte
ihr Herz und sprach in demselben für seinen Sohn. Die
Prophetin nahm also das Kind aus dem Korbe und zog
es auf, ohne seinen Vater und seine Mutter zu kennen.
Der Knabe erwuchs um den Altar seines Vaters spielend
und wußte nichts von seinen Eltern. Er wurde ein statt¬
licher Jüngling. Die Bewohner von Delphi, die ihn schon
als kleinen Tempelhüter gewohnt worden waren, setzten
ihn zum Schatzmeister über alle Geschenke, die der Gott
erhielt, und so brachte er fortwährend ein ehrbares und
heiliges Leben im Tempel seines Vaters zu.

Inzwischen hatte Kreusa von dem Gotte nichts mehr
erfahren und mußte wohl glauben, daß er ihrer und
ihres Sohnes vergessen habe. Um diese Zeit geriethen
die Athener in einen Krieg mit den Bewohnern der Nach¬
barinsel Euböa, der bis zur Vertilgung geführt wurde
und in welchem die letztern unterlagen. In diesem Kam¬
pfe war den Athenern besonders wirksam ein Fremdling
aus Achaja beigestanden. Es war dieß Xuthus, ein
Sohn des Aeolus, der selbst ein Sohn Jupiters war.
Zum Lohne seiner Hülfe begehrte und erhielt er die Hand
der Königstochter Kreusa; aber es war, als ob der ihr

den Pforten des Tempels niederſetzte und den Deckel des
Korbes öffnete, damit das Kind bemerklich würde. Dieß
geſchah bei Nacht. Am andern Morgen, als ſchon die
Sonne emporſtieg, kam die Delphiſche Prieſterin nach
dem Tempel geſchritten, und als ſie ihn betreten wollte,
fiel ihr Auge auf das neugeborne Kind, das in der Kiſte
ſchlummerte. Sie hielt daſſelbe für die Frucht irgend
eines Verbrechens und war ſchon geneigt, es von der
heiligen Schwelle fortzuſtoßen, als das Mitleid doch in
ihrer Seele die Oberhand gewann, denn der Gott wandte
ihr Herz und ſprach in demſelben für ſeinen Sohn. Die
Prophetin nahm alſo das Kind aus dem Korbe und zog
es auf, ohne ſeinen Vater und ſeine Mutter zu kennen.
Der Knabe erwuchs um den Altar ſeines Vaters ſpielend
und wußte nichts von ſeinen Eltern. Er wurde ein ſtatt¬
licher Jüngling. Die Bewohner von Delphi, die ihn ſchon
als kleinen Tempelhüter gewohnt worden waren, ſetzten
ihn zum Schatzmeiſter über alle Geſchenke, die der Gott
erhielt, und ſo brachte er fortwährend ein ehrbares und
heiliges Leben im Tempel ſeines Vaters zu.

Inzwiſchen hatte Krëuſa von dem Gotte nichts mehr
erfahren und mußte wohl glauben, daß er ihrer und
ihres Sohnes vergeſſen habe. Um dieſe Zeit geriethen
die Athener in einen Krieg mit den Bewohnern der Nach¬
barinſel Euböa, der bis zur Vertilgung geführt wurde
und in welchem die letztern unterlagen. In dieſem Kam¬
pfe war den Athenern beſonders wirkſam ein Fremdling
aus Achaja beigeſtanden. Es war dieß Xuthus, ein
Sohn des Aeolus, der ſelbſt ein Sohn Jupiters war.
Zum Lohne ſeiner Hülfe begehrte und erhielt er die Hand
der Königstochter Krëuſa; aber es war, als ob der ihr

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[68/0094] den Pforten des Tempels niederſetzte und den Deckel des Korbes öffnete, damit das Kind bemerklich würde. Dieß geſchah bei Nacht. Am andern Morgen, als ſchon die Sonne emporſtieg, kam die Delphiſche Prieſterin nach dem Tempel geſchritten, und als ſie ihn betreten wollte, fiel ihr Auge auf das neugeborne Kind, das in der Kiſte ſchlummerte. Sie hielt daſſelbe für die Frucht irgend eines Verbrechens und war ſchon geneigt, es von der heiligen Schwelle fortzuſtoßen, als das Mitleid doch in ihrer Seele die Oberhand gewann, denn der Gott wandte ihr Herz und ſprach in demſelben für ſeinen Sohn. Die Prophetin nahm alſo das Kind aus dem Korbe und zog es auf, ohne ſeinen Vater und ſeine Mutter zu kennen. Der Knabe erwuchs um den Altar ſeines Vaters ſpielend und wußte nichts von ſeinen Eltern. Er wurde ein ſtatt¬ licher Jüngling. Die Bewohner von Delphi, die ihn ſchon als kleinen Tempelhüter gewohnt worden waren, ſetzten ihn zum Schatzmeiſter über alle Geſchenke, die der Gott erhielt, und ſo brachte er fortwährend ein ehrbares und heiliges Leben im Tempel ſeines Vaters zu. Inzwiſchen hatte Krëuſa von dem Gotte nichts mehr erfahren und mußte wohl glauben, daß er ihrer und ihres Sohnes vergeſſen habe. Um dieſe Zeit geriethen die Athener in einen Krieg mit den Bewohnern der Nach¬ barinſel Euböa, der bis zur Vertilgung geführt wurde und in welchem die letztern unterlagen. In dieſem Kam¬ pfe war den Athenern beſonders wirkſam ein Fremdling aus Achaja beigeſtanden. Es war dieß Xuthus, ein Sohn des Aeolus, der ſelbſt ein Sohn Jupiters war. Zum Lohne ſeiner Hülfe begehrte und erhielt er die Hand der Königstochter Krëuſa; aber es war, als ob der ihr

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/94>, abgerufen am 29.03.2024.