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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

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Der Raub der Helena.

Wir wissen, daß, als König Priamus noch ein zarter
Knabe war, seine Schwester Hesione von Herkules, der
den Laomedon getödtet und Troja erobert hatte, als Sieges¬
beute fortgeschleppt und seinem Freunde Telamon geschenkt
worden war. Obgleich dieser Held sie zu seiner Gemah¬
lin erhoben und zur Fürstin von Salamis gemacht, so
hatte doch Priamus und sein Haus diesen Raub nicht
verschmerzt. Als nun an dem Königshofe einmal wieder
die Rede von dieser Entführung war und Priamus seine
große Sehnsucht nach der fernen Schwester zu erkennen
gab, da stand in dem Rathe seiner Söhne Alexander oder
Paris auf und erklärte, wenn man ihn mit einer Flotte
nach Griechenland schicken wolle, so gedenke er mit der
Götter Hülfe des Vaters Schwester den Feinden mit Ge¬
walt zu entreißen und mit Sieg und Ruhm gekrönt nach
Hause zurückzukehren. Seine Hoffnung stützte sich auf die
Gunst der Göttin Venus, und er erzählte deswegen dem
Vater und den Brüdern, was ihm, bei seinen Heerden
begegnet war. Priamus selbst zweifelte jetzt nicht länger,
daß sein Sohn Alexander den besondern Schutz der Himm¬
lischen erhalten werde und auch Deiphobus sprach die gute
Zuversicht aus, daß, wenn sein Bruder mit einer stattlichen
Kriegsrüstung erschiene, die Griechen Genugthuung geben
und Hesione ihm ausliefern würden. Nun war aber unter
den vielen Söhnen des Priamus auch ein Seher, Namens
Helenus. Dieser brach plötzlich in weissagende Worte aus
und versicherte, wenn sein Bruder Paris ein Weib aus

Der Raub der Helena.

Wir wiſſen, daß, als König Priamus noch ein zarter
Knabe war, ſeine Schweſter Heſione von Herkules, der
den Laomedon getödtet und Troja erobert hatte, als Sieges¬
beute fortgeſchleppt und ſeinem Freunde Telamon geſchenkt
worden war. Obgleich dieſer Held ſie zu ſeiner Gemah¬
lin erhoben und zur Fürſtin von Salamis gemacht, ſo
hatte doch Priamus und ſein Haus dieſen Raub nicht
verſchmerzt. Als nun an dem Königshofe einmal wieder
die Rede von dieſer Entführung war und Priamus ſeine
große Sehnſucht nach der fernen Schweſter zu erkennen
gab, da ſtand in dem Rathe ſeiner Söhne Alexander oder
Paris auf und erklärte, wenn man ihn mit einer Flotte
nach Griechenland ſchicken wolle, ſo gedenke er mit der
Götter Hülfe des Vaters Schweſter den Feinden mit Ge¬
walt zu entreißen und mit Sieg und Ruhm gekrönt nach
Hauſe zurückzukehren. Seine Hoffnung ſtützte ſich auf die
Gunſt der Göttin Venus, und er erzählte deswegen dem
Vater und den Brüdern, was ihm, bei ſeinen Heerden
begegnet war. Priamus ſelbſt zweifelte jetzt nicht länger,
daß ſein Sohn Alexander den beſondern Schutz der Himm¬
liſchen erhalten werde und auch Deiphobus ſprach die gute
Zuverſicht aus, daß, wenn ſein Bruder mit einer ſtattlichen
Kriegsrüſtung erſchiene, die Griechen Genugthuung geben
und Heſione ihm ausliefern würden. Nun war aber unter
den vielen Söhnen des Priamus auch ein Seher, Namens
Helenus. Dieſer brach plötzlich in weiſſagende Worte aus
und verſicherte, wenn ſein Bruder Paris ein Weib aus

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[12/0034] Der Raub der Helena. Wir wiſſen, daß, als König Priamus noch ein zarter Knabe war, ſeine Schweſter Heſione von Herkules, der den Laomedon getödtet und Troja erobert hatte, als Sieges¬ beute fortgeſchleppt und ſeinem Freunde Telamon geſchenkt worden war. Obgleich dieſer Held ſie zu ſeiner Gemah¬ lin erhoben und zur Fürſtin von Salamis gemacht, ſo hatte doch Priamus und ſein Haus dieſen Raub nicht verſchmerzt. Als nun an dem Königshofe einmal wieder die Rede von dieſer Entführung war und Priamus ſeine große Sehnſucht nach der fernen Schweſter zu erkennen gab, da ſtand in dem Rathe ſeiner Söhne Alexander oder Paris auf und erklärte, wenn man ihn mit einer Flotte nach Griechenland ſchicken wolle, ſo gedenke er mit der Götter Hülfe des Vaters Schweſter den Feinden mit Ge¬ walt zu entreißen und mit Sieg und Ruhm gekrönt nach Hauſe zurückzukehren. Seine Hoffnung ſtützte ſich auf die Gunſt der Göttin Venus, und er erzählte deswegen dem Vater und den Brüdern, was ihm, bei ſeinen Heerden begegnet war. Priamus ſelbſt zweifelte jetzt nicht länger, daß ſein Sohn Alexander den beſondern Schutz der Himm¬ liſchen erhalten werde und auch Deiphobus ſprach die gute Zuverſicht aus, daß, wenn ſein Bruder mit einer ſtattlichen Kriegsrüſtung erſchiene, die Griechen Genugthuung geben und Heſione ihm ausliefern würden. Nun war aber unter den vielen Söhnen des Priamus auch ein Seher, Namens Helenus. Dieſer brach plötzlich in weiſſagende Worte aus und verſicherte, wenn ſein Bruder Paris ein Weib aus

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/34>, abgerufen am 28.03.2024.