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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

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jammernd und die Hände des Helden festhaltend, denn
er fürchtete, dieser möchte sich mit dem Schwerte die
Kehle abschneiden.

Achilles selbst heulte so fürchterlich in die Lüfte hin¬
aus, daß seine Mutter im Abgrunde des Meeres, neben
ihrem grauen Vater sitzend, die Stimme des Weinenden
vernahm, und selber so laut zu schluchzen anfing, daß ihre
silberne Grotte sich bald mit den Nereiden füllte, die alle
zugleich an die Brust schlugen und die Wehklage mit der
Schwester begannen. "Wehe mir Armen," rief diese
ihren Geschwistern zu, "wehe mir unglücklicher Helden¬
mutter, daß ich einen so edeln, so tapfern, so herrlichen
Sohn gebar! Er wuchs empor, wie eine Pflanze von
Gärtnershand gepflegt, dann sandt' ich ihn zu den Schif¬
fen gen Troja; aber nie sehe ich ihn wieder, nie kehrt er
in den Pallast des Peleus zurück; und so lange er das
Sonnenlicht noch sieht, muß er solche Qual dulden, und
ich kann ihm nicht helfen! Dennoch will ich mein geliebtes
Kind zu schauen gehen, will hören, welcher Kummer ihn
betraf, während er ungefährdet vom Kampfe bei den
Schiffen sitzt!" So sprach die Göttin, und stieg mit den
Schwestern durch die gespaltenen Wogen hinan zum Ge¬
stade, tauchte bei den Schiffen ans Land und eilte dem
schluchzenden Sohne zu. "Kind, was weinest du," rief
sie, indem sie unter Wehklagen sein Haupt umschlang,
"wer betrübt dir dein Herz? rede, verhehle mir nichts!
Ist es doch Alles geschehen, wie du gewollt hast, die
Männer Griechenlands sind um die Schiffe zusammen¬
gedrängt und schmachten trostlos nach deiner Hülfe!"
Endlich begann Achilles unter schweren Seufzern: "Mut¬
ter, was hilft mir das, seit mein Patroklus, der mir lieb

jammernd und die Hände des Helden feſthaltend, denn
er fürchtete, dieſer möchte ſich mit dem Schwerte die
Kehle abſchneiden.

Achilles ſelbſt heulte ſo fürchterlich in die Lüfte hin¬
aus, daß ſeine Mutter im Abgrunde des Meeres, neben
ihrem grauen Vater ſitzend, die Stimme des Weinenden
vernahm, und ſelber ſo laut zu ſchluchzen anfing, daß ihre
ſilberne Grotte ſich bald mit den Nereiden füllte, die alle
zugleich an die Bruſt ſchlugen und die Wehklage mit der
Schweſter begannen. „Wehe mir Armen,“ rief dieſe
ihren Geſchwiſtern zu, „wehe mir unglücklicher Helden¬
mutter, daß ich einen ſo edeln, ſo tapfern, ſo herrlichen
Sohn gebar! Er wuchs empor, wie eine Pflanze von
Gärtnershand gepflegt, dann ſandt' ich ihn zu den Schif¬
fen gen Troja; aber nie ſehe ich ihn wieder, nie kehrt er
in den Pallaſt des Peleus zurück; und ſo lange er das
Sonnenlicht noch ſieht, muß er ſolche Qual dulden, und
ich kann ihm nicht helfen! Dennoch will ich mein geliebtes
Kind zu ſchauen gehen, will hören, welcher Kummer ihn
betraf, während er ungefährdet vom Kampfe bei den
Schiffen ſitzt!“ So ſprach die Göttin, und ſtieg mit den
Schweſtern durch die geſpaltenen Wogen hinan zum Ge¬
ſtade, tauchte bei den Schiffen ans Land und eilte dem
ſchluchzenden Sohne zu. „Kind, was weineſt du,“ rief
ſie, indem ſie unter Wehklagen ſein Haupt umſchlang,
„wer betrübt dir dein Herz? rede, verhehle mir nichts!
Iſt es doch Alles geſchehen, wie du gewollt haſt, die
Männer Griechenlands ſind um die Schiffe zuſammen¬
gedrängt und ſchmachten troſtlos nach deiner Hülfe!“
Endlich begann Achilles unter ſchweren Seufzern: „Mut¬
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[238/0260] jammernd und die Hände des Helden feſthaltend, denn er fürchtete, dieſer möchte ſich mit dem Schwerte die Kehle abſchneiden. Achilles ſelbſt heulte ſo fürchterlich in die Lüfte hin¬ aus, daß ſeine Mutter im Abgrunde des Meeres, neben ihrem grauen Vater ſitzend, die Stimme des Weinenden vernahm, und ſelber ſo laut zu ſchluchzen anfing, daß ihre ſilberne Grotte ſich bald mit den Nereiden füllte, die alle zugleich an die Bruſt ſchlugen und die Wehklage mit der Schweſter begannen. „Wehe mir Armen,“ rief dieſe ihren Geſchwiſtern zu, „wehe mir unglücklicher Helden¬ mutter, daß ich einen ſo edeln, ſo tapfern, ſo herrlichen Sohn gebar! Er wuchs empor, wie eine Pflanze von Gärtnershand gepflegt, dann ſandt' ich ihn zu den Schif¬ fen gen Troja; aber nie ſehe ich ihn wieder, nie kehrt er in den Pallaſt des Peleus zurück; und ſo lange er das Sonnenlicht noch ſieht, muß er ſolche Qual dulden, und ich kann ihm nicht helfen! Dennoch will ich mein geliebtes Kind zu ſchauen gehen, will hören, welcher Kummer ihn betraf, während er ungefährdet vom Kampfe bei den Schiffen ſitzt!“ So ſprach die Göttin, und ſtieg mit den Schweſtern durch die geſpaltenen Wogen hinan zum Ge¬ ſtade, tauchte bei den Schiffen ans Land und eilte dem ſchluchzenden Sohne zu. „Kind, was weineſt du,“ rief ſie, indem ſie unter Wehklagen ſein Haupt umſchlang, „wer betrübt dir dein Herz? rede, verhehle mir nichts! Iſt es doch Alles geſchehen, wie du gewollt haſt, die Männer Griechenlands ſind um die Schiffe zuſammen¬ gedrängt und ſchmachten troſtlos nach deiner Hülfe!“ Endlich begann Achilles unter ſchweren Seufzern: „Mut¬ ter, was hilft mir das, ſeit mein Patroklus, der mir lieb

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 238. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/260>, abgerufen am 29.03.2024.