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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

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freundlich: "Lagere dich jetzt draußen, lieber Greis, es
möchte dich einer der Danaerfürsten, die sich beständig in
meinem Zelte zum Rath versammeln, durchs Dunkel hin¬
schleichen sehen, und es dem Völkerhirten Agamemnon
melden. Der aber könnte dir den Leichnam streitig ma¬
chen. Jetzt sage mir aber auch noch: wie viel Tage
gedenkst du auf die Bestattung deines edlen Sohnes zu
verwenden? Damit ich so lange ruhe, und auch das
Volk von jedem Angriff abhalte." "Wenn du mir es
vergönnst," antwortete Priamus, "meinem Sohn eine
Leichenfeier zu halten, so gestatte mir deine Güte elf
Tage. Du weißt, wir sind in die Stadt eingeschlossen,
und müssen das Holz fern im Gebirge holen. So brau¬
chen wir neun Tage zur Vorbereitung, am zehnten möch¬
ten wir ihn bestatten und das Todtenmahl feiern, am
elften ihm einen Ehrenhügel aufthürmen: am zwölften
Tage, wenn es so seyn muß, wollen wir wieder kämpfen."
"Auch dieses geschehe, wie du begehrst," erwiederte Achil¬
les, "ich werde das Heer so lange zurückhalten, als du
gefordert." So sprechend, faßte er die Rechte des Grei¬
ses am Knöchel, um seinem Herzen alle Furcht zu beneh¬
men. Nun entließ er ihn zum Schlafe, und legte sich
selbst im innersten Raume seines Zeltes nieder.

Während so Alles schlief, blieb nur Hermes der Gott
schlummerlos, und erwog im Geiste, wie er den König
Troja's, von den Wächtern ungesehen, aus den Schiffen
zurückführen möchte. Deswegen trat er zu dem Haupte
des schlummernden Greises, und sprach zu ihm: "Alter,
du schläfst fürwahr sehr unbesorgt bei feindlichen Männern,
nachdem dich Alles verschont hat. Es ist wahr, du hast
den Sohn theuer gelöst; aber wenn Agamemnon und die

freundlich: „Lagere dich jetzt draußen, lieber Greis, es
möchte dich einer der Danaerfürſten, die ſich beſtändig in
meinem Zelte zum Rath verſammeln, durchs Dunkel hin¬
ſchleichen ſehen, und es dem Völkerhirten Agamemnon
melden. Der aber könnte dir den Leichnam ſtreitig ma¬
chen. Jetzt ſage mir aber auch noch: wie viel Tage
gedenkſt du auf die Beſtattung deines edlen Sohnes zu
verwenden? Damit ich ſo lange ruhe, und auch das
Volk von jedem Angriff abhalte.“ „Wenn du mir es
vergönnſt,“ antwortete Priamus, „meinem Sohn eine
Leichenfeier zu halten, ſo geſtatte mir deine Güte elf
Tage. Du weißt, wir ſind in die Stadt eingeſchloſſen,
und müſſen das Holz fern im Gebirge holen. So brau¬
chen wir neun Tage zur Vorbereitung, am zehnten möch¬
ten wir ihn beſtatten und das Todtenmahl feiern, am
elften ihm einen Ehrenhügel aufthürmen: am zwölften
Tage, wenn es ſo ſeyn muß, wollen wir wieder kämpfen.“
„Auch dieſes geſchehe, wie du begehrſt,“ erwiederte Achil¬
les, „ich werde das Heer ſo lange zurückhalten, als du
gefordert.“ So ſprechend, faßte er die Rechte des Grei¬
ſes am Knöchel, um ſeinem Herzen alle Furcht zu beneh¬
men. Nun entließ er ihn zum Schlafe, und legte ſich
ſelbſt im innerſten Raume ſeines Zeltes nieder.

Während ſo Alles ſchlief, blieb nur Hermes der Gott
ſchlummerlos, und erwog im Geiſte, wie er den König
Troja's, von den Wächtern ungeſehen, aus den Schiffen
zurückführen möchte. Deswegen trat er zu dem Haupte
des ſchlummernden Greiſes, und ſprach zu ihm: „Alter,
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[311/0333] freundlich: „Lagere dich jetzt draußen, lieber Greis, es möchte dich einer der Danaerfürſten, die ſich beſtändig in meinem Zelte zum Rath verſammeln, durchs Dunkel hin¬ ſchleichen ſehen, und es dem Völkerhirten Agamemnon melden. Der aber könnte dir den Leichnam ſtreitig ma¬ chen. Jetzt ſage mir aber auch noch: wie viel Tage gedenkſt du auf die Beſtattung deines edlen Sohnes zu verwenden? Damit ich ſo lange ruhe, und auch das Volk von jedem Angriff abhalte.“ „Wenn du mir es vergönnſt,“ antwortete Priamus, „meinem Sohn eine Leichenfeier zu halten, ſo geſtatte mir deine Güte elf Tage. Du weißt, wir ſind in die Stadt eingeſchloſſen, und müſſen das Holz fern im Gebirge holen. So brau¬ chen wir neun Tage zur Vorbereitung, am zehnten möch¬ ten wir ihn beſtatten und das Todtenmahl feiern, am elften ihm einen Ehrenhügel aufthürmen: am zwölften Tage, wenn es ſo ſeyn muß, wollen wir wieder kämpfen.“ „Auch dieſes geſchehe, wie du begehrſt,“ erwiederte Achil¬ les, „ich werde das Heer ſo lange zurückhalten, als du gefordert.“ So ſprechend, faßte er die Rechte des Grei¬ ſes am Knöchel, um ſeinem Herzen alle Furcht zu beneh¬ men. Nun entließ er ihn zum Schlafe, und legte ſich ſelbſt im innerſten Raume ſeines Zeltes nieder. Während ſo Alles ſchlief, blieb nur Hermes der Gott ſchlummerlos, und erwog im Geiſte, wie er den König Troja's, von den Wächtern ungeſehen, aus den Schiffen zurückführen möchte. Deswegen trat er zu dem Haupte des ſchlummernden Greiſes, und ſprach zu ihm: „Alter, du ſchläfſt fürwahr ſehr unbeſorgt bei feindlichen Männern, nachdem dich Alles verſchont hat. Es iſt wahr, du haſt den Sohn theuer gelöst; aber wenn Agamemnon und die

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 311. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/333>, abgerufen am 29.03.2024.