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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

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es ohne Erbarmen. Laßt uns diesen Vogel zum Muster
nehmen, und Troja nicht fürder mit Gewalt zu erobern
suchen, sondern es einmal mit der List versuchen."

So sprach der Seher; aber keinem der Helden, ob¬
gleich sie hin und her sannen, wollte ein Mittel einfallen,
wie dem grausamen Kriege ein Ziel gesetzt werden könnte;
der einzige Odysseus kam endlich durch die Verschmitztheit
seines Geistes auf ein solches. "Wisset ihr was, Freunde,"
rief er, freudig bewegt durch den glücklichen Einfall: "Laßt
uns ein riesengroßes Pferd aus Holze zimmern, in dessen
Versteck sich die edelsten Griechenhelden, so viele unser
sind, einschließen sollen. Die übrigen Schaaren mögen
sich inzwischen mit den Schiffen nach der Insel Tenedos
zurückziehen, hier im Lager aber alles Zurückgelassene
verbrennen, damit die Trojaner, wenn sie dieß von ihren
Mauern aus gewahr werden, sich sorglos wieder über das
Feld verbreiten. Von uns Helden aber soll ein muthiger
Mann, der keinem der Troer bekannt ist, außerhalb des
Rosses bleiben, sich als Flüchtling zu ihnen begeben und
ihnen das Mährchen vortragen, daß er sich der frevelhaf¬
ten Gewalt der Achiver entzogen habe, welche ihn um
ihrer Rückkehr willen den Göttern als Opfer schlachten
wollten. Er habe sich nämlich unter dem künstlichen Rosse,
welches der Feindin der Trojaner, der Göttin Pallas
Athene, geweiht sey, versteckt und sey jetzt, nach der Ab¬
fahrt seiner Feinde, eben erst hervorgekrochen. Dieß muß
er den ihn Befragenden so lange zuversichtlich wieder¬
holen, bis sie ihr Mißtrauen überwunden haben und ihm
zu glauben anfangen. Dann werden sie ihn als einen
bemitleidenswerthen Fremdling in ihre Stadt führen. Hier
soll er darauf hinarbeiten, daß die Trojaner das hölzerne

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es ohne Erbarmen. Laßt uns dieſen Vogel zum Muſter
nehmen, und Troja nicht fürder mit Gewalt zu erobern
ſuchen, ſondern es einmal mit der Liſt verſuchen.“

So ſprach der Seher; aber keinem der Helden, ob¬
gleich ſie hin und her ſannen, wollte ein Mittel einfallen,
wie dem grauſamen Kriege ein Ziel geſetzt werden könnte;
der einzige Odyſſeus kam endlich durch die Verſchmitztheit
ſeines Geiſtes auf ein ſolches. „Wiſſet ihr was, Freunde,“
rief er, freudig bewegt durch den glücklichen Einfall: „Laßt
uns ein rieſengroßes Pferd aus Holze zimmern, in deſſen
Verſteck ſich die edelſten Griechenhelden, ſo viele unſer
ſind, einſchließen ſollen. Die übrigen Schaaren mögen
ſich inzwiſchen mit den Schiffen nach der Inſel Tenedos
zurückziehen, hier im Lager aber alles Zurückgelaſſene
verbrennen, damit die Trojaner, wenn ſie dieß von ihren
Mauern aus gewahr werden, ſich ſorglos wieder über das
Feld verbreiten. Von uns Helden aber ſoll ein muthiger
Mann, der keinem der Troer bekannt iſt, außerhalb des
Roſſes bleiben, ſich als Flüchtling zu ihnen begeben und
ihnen das Mährchen vortragen, daß er ſich der frevelhaf¬
ten Gewalt der Achiver entzogen habe, welche ihn um
ihrer Rückkehr willen den Göttern als Opfer ſchlachten
wollten. Er habe ſich nämlich unter dem künſtlichen Roſſe,
welches der Feindin der Trojaner, der Göttin Pallas
Athene, geweiht ſey, verſteckt und ſey jetzt, nach der Ab¬
fahrt ſeiner Feinde, eben erſt hervorgekrochen. Dieß muß
er den ihn Befragenden ſo lange zuverſichtlich wieder¬
holen, bis ſie ihr Mißtrauen überwunden haben und ihm
zu glauben anfangen. Dann werden ſie ihn als einen
bemitleidenswerthen Fremdling in ihre Stadt führen. Hier
ſoll er darauf hinarbeiten, daß die Trojaner das hölzerne

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[403/0425] es ohne Erbarmen. Laßt uns dieſen Vogel zum Muſter nehmen, und Troja nicht fürder mit Gewalt zu erobern ſuchen, ſondern es einmal mit der Liſt verſuchen.“ So ſprach der Seher; aber keinem der Helden, ob¬ gleich ſie hin und her ſannen, wollte ein Mittel einfallen, wie dem grauſamen Kriege ein Ziel geſetzt werden könnte; der einzige Odyſſeus kam endlich durch die Verſchmitztheit ſeines Geiſtes auf ein ſolches. „Wiſſet ihr was, Freunde,“ rief er, freudig bewegt durch den glücklichen Einfall: „Laßt uns ein rieſengroßes Pferd aus Holze zimmern, in deſſen Verſteck ſich die edelſten Griechenhelden, ſo viele unſer ſind, einſchließen ſollen. Die übrigen Schaaren mögen ſich inzwiſchen mit den Schiffen nach der Inſel Tenedos zurückziehen, hier im Lager aber alles Zurückgelaſſene verbrennen, damit die Trojaner, wenn ſie dieß von ihren Mauern aus gewahr werden, ſich ſorglos wieder über das Feld verbreiten. Von uns Helden aber ſoll ein muthiger Mann, der keinem der Troer bekannt iſt, außerhalb des Roſſes bleiben, ſich als Flüchtling zu ihnen begeben und ihnen das Mährchen vortragen, daß er ſich der frevelhaf¬ ten Gewalt der Achiver entzogen habe, welche ihn um ihrer Rückkehr willen den Göttern als Opfer ſchlachten wollten. Er habe ſich nämlich unter dem künſtlichen Roſſe, welches der Feindin der Trojaner, der Göttin Pallas Athene, geweiht ſey, verſteckt und ſey jetzt, nach der Ab¬ fahrt ſeiner Feinde, eben erſt hervorgekrochen. Dieß muß er den ihn Befragenden ſo lange zuverſichtlich wieder¬ holen, bis ſie ihr Mißtrauen überwunden haben und ihm zu glauben anfangen. Dann werden ſie ihn als einen bemitleidenswerthen Fremdling in ihre Stadt führen. Hier ſoll er darauf hinarbeiten, daß die Trojaner das hölzerne 26 *

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 403. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/425>, abgerufen am 29.03.2024.