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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

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im Winde, da erblickte ihn die Meeresgöttin Leukothea,
und es erbarmte sie des armen Dulders. Wie ein
Wasserhuhn flog sie aus dem Strudel empor, setzte sich
auf das Gebälk und sprach zu ihm: "Laß dir rathen,
Odysseus! Zieh dein Gewand aus, überlaß den Floß
dem Sturm; schnell, umgürte dich hier mit meinem
Schleier unter der Brust, und dann verachte schwim¬
mend alle Schrecken des Meers!" Odysseus nahm den
Schleier; die Göttin verschwand, und, obgleich er der
Erscheinung mißtraute, so gehorchte er dem Rathe doch.
Während Neptun ihm die wildeste Woge sandte, daß das
Bruchstück des Flosses ganz auseinanderging, setzte er
sich, wie ein Reiter, auf einen einzelnen Balken, zog das
lange beschwerende Gewand, das Kalypso ihm geschenkt
hatte, aus, und sprang mit dem Schleier umgürtet in
die Fluth.

Poseidon schüttelte ernsthaft das Haupt, als er den
entschlossenen Mann den Sprung wagen sah und sprach:
"So irre denn durch die Meeresfluth, von Jammer um¬
ringt! Gewiß, du sollst das Elend noch satt kriegen!"
Mit diesen Worten verließ der Gott die See und zog
sich nach seinem Palaste zurück. Odysseus wogte nun
noch zwei Tage und Nächte auf der See umher; da
erblickte er endlich ein waldiges Ufer, wo die Brandung
an Klippen donnerte, und eine hochschwellende Woge trug
ihn, ehe er einen Entschluß fassen konnte, von selbst dem
Gestade entgegen. Mit beiden Händen umfaßte er eine
Klippe; aber, siehe da eine Woge kam und schleu¬
derte ihn wieder ins Meer zurück. Er suchte sein Heil
nun wieder im Schwimmen und fand endlich ein beque¬
mes, seichtes Ufer und eine sichere Bucht, wo ein kleiner

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im Winde, da erblickte ihn die Meeresgöttin Leukothea,
und es erbarmte ſie des armen Dulders. Wie ein
Waſſerhuhn flog ſie aus dem Strudel empor, ſetzte ſich
auf das Gebälk und ſprach zu ihm: „Laß dir rathen,
Odyſſeus! Zieh dein Gewand aus, überlaß den Floß
dem Sturm; ſchnell, umgürte dich hier mit meinem
Schleier unter der Bruſt, und dann verachte ſchwim¬
mend alle Schrecken des Meers!“ Odyſſeus nahm den
Schleier; die Göttin verſchwand, und, obgleich er der
Erſcheinung mißtraute, ſo gehorchte er dem Rathe doch.
Während Neptun ihm die wildeſte Woge ſandte, daß das
Bruchſtück des Floſſes ganz auseinanderging, ſetzte er
ſich, wie ein Reiter, auf einen einzelnen Balken, zog das
lange beſchwerende Gewand, das Kalypſo ihm geſchenkt
hatte, aus, und ſprang mit dem Schleier umgürtet in
die Fluth.

Poſeidon ſchüttelte ernſthaft das Haupt, als er den
entſchloſſenen Mann den Sprung wagen ſah und ſprach:
„So irre denn durch die Meeresfluth, von Jammer um¬
ringt! Gewiß, du ſollſt das Elend noch ſatt kriegen!“
Mit dieſen Worten verließ der Gott die See und zog
ſich nach ſeinem Palaſte zurück. Odyſſeus wogte nun
noch zwei Tage und Nächte auf der See umher; da
erblickte er endlich ein waldiges Ufer, wo die Brandung
an Klippen donnerte, und eine hochſchwellende Woge trug
ihn, ehe er einen Entſchluß faſſen konnte, von ſelbſt dem
Geſtade entgegen. Mit beiden Händen umfaßte er eine
Klippe; aber, ſiehe da eine Woge kam und ſchleu¬
derte ihn wieder ins Meer zurück. Er ſuchte ſein Heil
nun wieder im Schwimmen und fand endlich ein beque¬
mes, ſeichtes Ufer und eine ſichere Bucht, wo ein kleiner

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[99/0121] im Winde, da erblickte ihn die Meeresgöttin Leukothea, und es erbarmte ſie des armen Dulders. Wie ein Waſſerhuhn flog ſie aus dem Strudel empor, ſetzte ſich auf das Gebälk und ſprach zu ihm: „Laß dir rathen, Odyſſeus! Zieh dein Gewand aus, überlaß den Floß dem Sturm; ſchnell, umgürte dich hier mit meinem Schleier unter der Bruſt, und dann verachte ſchwim¬ mend alle Schrecken des Meers!“ Odyſſeus nahm den Schleier; die Göttin verſchwand, und, obgleich er der Erſcheinung mißtraute, ſo gehorchte er dem Rathe doch. Während Neptun ihm die wildeſte Woge ſandte, daß das Bruchſtück des Floſſes ganz auseinanderging, ſetzte er ſich, wie ein Reiter, auf einen einzelnen Balken, zog das lange beſchwerende Gewand, das Kalypſo ihm geſchenkt hatte, aus, und ſprang mit dem Schleier umgürtet in die Fluth. Poſeidon ſchüttelte ernſthaft das Haupt, als er den entſchloſſenen Mann den Sprung wagen ſah und ſprach: „So irre denn durch die Meeresfluth, von Jammer um¬ ringt! Gewiß, du ſollſt das Elend noch ſatt kriegen!“ Mit dieſen Worten verließ der Gott die See und zog ſich nach ſeinem Palaſte zurück. Odyſſeus wogte nun noch zwei Tage und Nächte auf der See umher; da erblickte er endlich ein waldiges Ufer, wo die Brandung an Klippen donnerte, und eine hochſchwellende Woge trug ihn, ehe er einen Entſchluß faſſen konnte, von ſelbſt dem Geſtade entgegen. Mit beiden Händen umfaßte er eine Klippe; aber, ſiehe da eine Woge kam und ſchleu¬ derte ihn wieder ins Meer zurück. Er ſuchte ſein Heil nun wieder im Schwimmen und fand endlich ein beque¬ mes, ſeichtes Ufer und eine ſichere Bucht, wo ein kleiner 7 *

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 99. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/121>, abgerufen am 28.03.2024.