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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

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Mitternacht für die Menschen, gegen Mittag eine ver¬
borgene Pforte für die unsterblichen Nymphen, welche
nie ein Sterblicher betrat. Bei dieser Höhle landeten
die Phäaken, hoben den schlummernden Odysseus mit samt
Teppich und Polster aus dem Schiff, und legten ihn vor der
Grotte unter dem Oelbaum im Sande nieder. Hierauf wur¬
den auch alle die Gaben ausgeschifft, welche ihm Alcinous
und seine Fürsten als Geschenke mitgegeben, und sie leg¬
ten Alles sorgfältig seitwärts vom Wege, damit nicht
etwa ein vorübergehender Wanderer den Fortschlummern¬
den berauben möchte. Den Helden aus dem Schlafe
zu wecken wagten sie nicht, denn derselbe däuchte ihnen
von den Göttern selbst ihm zugesendet. Hierauf setzten
sie sich wieder ans Ruder und fuhren ihrer Heimath zu.

Aber der Meeresgott Poseidon grollte den Phäaken,
daß sie mit Hülfe der Pallas ihm seine Beute entrissen
hätten, und erbat sich vom Göttervater die Erlaubniß,
an ihrem Schiff Rache nehmen zu dürfen. Dieser gönnte
sie ihm, und als das Schiff der Insel Scheria, dem
Lande der Phäaken, schon ganz nahe war, und mit
vollen Segeln einherwogte, stieg Poseidon aus den Wel¬
len empor, schlug es mit der flachen Hand, und ver¬
schwand wieder in der Flut. Das Schiff aber mit Allem
was darauf war, wurde plötzlich in einen Felsen ver¬
wandelt, und wurzelte im Meeresboden fest. Die Phäaken,
welche auf die Nachricht, daß ihre Landsleute zurückkom¬
men, nach dem Strande geeilt waren, konnten nicht
genug staunen, als das Schiff, welches eben noch in
vollem Fluge begriffen war, plötzlich in seinem Laufe
gehemmt, stille stand. Aber Alcinous erhob sich in der
Versammlung und sprach: "Weh uns, gewiß erfüllt sich

Mitternacht für die Menſchen, gegen Mittag eine ver¬
borgene Pforte für die unſterblichen Nymphen, welche
nie ein Sterblicher betrat. Bei dieſer Höhle landeten
die Phäaken, hoben den ſchlummernden Odyſſeus mit ſamt
Teppich und Polſter aus dem Schiff, und legten ihn vor der
Grotte unter dem Oelbaum im Sande nieder. Hierauf wur¬
den auch alle die Gaben ausgeſchifft, welche ihm Alcinous
und ſeine Fürſten als Geſchenke mitgegeben, und ſie leg¬
ten Alles ſorgfältig ſeitwärts vom Wege, damit nicht
etwa ein vorübergehender Wanderer den Fortſchlummern¬
den berauben möchte. Den Helden aus dem Schlafe
zu wecken wagten ſie nicht, denn derſelbe däuchte ihnen
von den Göttern ſelbſt ihm zugeſendet. Hierauf ſetzten
ſie ſich wieder ans Ruder und fuhren ihrer Heimath zu.

Aber der Meeresgott Poſeidon grollte den Phäaken,
daß ſie mit Hülfe der Pallas ihm ſeine Beute entriſſen
hätten, und erbat ſich vom Göttervater die Erlaubniß,
an ihrem Schiff Rache nehmen zu dürfen. Dieſer gönnte
ſie ihm, und als das Schiff der Inſel Scheria, dem
Lande der Phäaken, ſchon ganz nahe war, und mit
vollen Segeln einherwogte, ſtieg Poſeidon aus den Wel¬
len empor, ſchlug es mit der flachen Hand, und ver¬
ſchwand wieder in der Flut. Das Schiff aber mit Allem
was darauf war, wurde plötzlich in einen Felſen ver¬
wandelt, und wurzelte im Meeresboden feſt. Die Phäaken,
welche auf die Nachricht, daß ihre Landsleute zurückkom¬
men, nach dem Strande geeilt waren, konnten nicht
genug ſtaunen, als das Schiff, welches eben noch in
vollem Fluge begriffen war, plötzlich in ſeinem Laufe
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[176/0198] Mitternacht für die Menſchen, gegen Mittag eine ver¬ borgene Pforte für die unſterblichen Nymphen, welche nie ein Sterblicher betrat. Bei dieſer Höhle landeten die Phäaken, hoben den ſchlummernden Odyſſeus mit ſamt Teppich und Polſter aus dem Schiff, und legten ihn vor der Grotte unter dem Oelbaum im Sande nieder. Hierauf wur¬ den auch alle die Gaben ausgeſchifft, welche ihm Alcinous und ſeine Fürſten als Geſchenke mitgegeben, und ſie leg¬ ten Alles ſorgfältig ſeitwärts vom Wege, damit nicht etwa ein vorübergehender Wanderer den Fortſchlummern¬ den berauben möchte. Den Helden aus dem Schlafe zu wecken wagten ſie nicht, denn derſelbe däuchte ihnen von den Göttern ſelbſt ihm zugeſendet. Hierauf ſetzten ſie ſich wieder ans Ruder und fuhren ihrer Heimath zu. Aber der Meeresgott Poſeidon grollte den Phäaken, daß ſie mit Hülfe der Pallas ihm ſeine Beute entriſſen hätten, und erbat ſich vom Göttervater die Erlaubniß, an ihrem Schiff Rache nehmen zu dürfen. Dieſer gönnte ſie ihm, und als das Schiff der Inſel Scheria, dem Lande der Phäaken, ſchon ganz nahe war, und mit vollen Segeln einherwogte, ſtieg Poſeidon aus den Wel¬ len empor, ſchlug es mit der flachen Hand, und ver¬ ſchwand wieder in der Flut. Das Schiff aber mit Allem was darauf war, wurde plötzlich in einen Felſen ver¬ wandelt, und wurzelte im Meeresboden feſt. Die Phäaken, welche auf die Nachricht, daß ihre Landsleute zurückkom¬ men, nach dem Strande geeilt waren, konnten nicht genug ſtaunen, als das Schiff, welches eben noch in vollem Fluge begriffen war, plötzlich in ſeinem Laufe gehemmt, ſtille ſtand. Aber Alcinous erhob ſich in der Verſammlung und ſprach: „Weh uns, gewiß erfüllt ſich

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 176. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/198>, abgerufen am 28.03.2024.