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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

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warnenden Traum gesendet: wir haben uns zu weit von
den Schiffen entfernt, will nicht einer gehen, und dem
Agamemnon die Aufforderung bringen, uns noch mehr
Streitgenossen zu schicken? Auf diese Worte sprang einer
unsrer Krieger, Thoas, der Sohn des Andrämon, dienst¬
bereit vom Boden auf, legte seinen Mantel von sich, und
eilte zu den Schiffen. Ich aber wickelte mich behaglich
in denselben und schlief nun getrost bis zur Morgenröthe.
Ja, wär' ich noch der junge stattliche Mann wie da¬
mals, so würde mir, aus Liebe wie aus Scheu, wohl
auch irgend ein Sauhirt im Gehege hier seinen Mantel
zum Schirme gegen den Nachtfrost leihen. Jetzt kümmert
sich freilich kein Mensch in meinen Lumpen um mich!"

"Das ist ein schönes Gleichniß," sagte Eumäus
lachend, "das du uns da erzählt hast, Fremdling, drum
soll es dir auch jetzt weder an Kleidung, noch an irgend
etwas Anderem mangeln. Morgen mußt du freilich wie¬
der mit deinen Lumpen fürlieb nehmen; denn wir selbst
haben nichts Uebriges zum Anlegen, wenn aber der Sohn
des Odysseus glücklich heimkehren sollte, so wird er dich
ganz gewiß mit Mantel und Leibrock beschenken, und
dich geleiten lassen, wohin du wünschest." So sprechend
erhob sich Eumäus, und bereitete seinem Gaste nicht
weit vom Feuerherd ein Bett, das er ihm aus Schaf¬
pelzen und Ziegenhäuten zurecht machte, und nachdem
sich Odysseus darauf niedergelegt, deckte er ihn mit einem
dichten großen Mantel zu, den er selbst bei den heftigen
Winterstürmen anzuziehen pflegte.

So lag denn der Held warm gebettet, und schickte
sich zum Schlummer an; neben ihm legten sich auch
die Knechte zum Schlafe nieder; aber Eumäus wählte

warnenden Traum geſendet: wir haben uns zu weit von
den Schiffen entfernt, will nicht einer gehen, und dem
Agamemnon die Aufforderung bringen, uns noch mehr
Streitgenoſſen zu ſchicken? Auf dieſe Worte ſprang einer
unſrer Krieger, Thoas, der Sohn des Andrämon, dienſt¬
bereit vom Boden auf, legte ſeinen Mantel von ſich, und
eilte zu den Schiffen. Ich aber wickelte mich behaglich
in denſelben und ſchlief nun getroſt bis zur Morgenröthe.
Ja, wär' ich noch der junge ſtattliche Mann wie da¬
mals, ſo würde mir, aus Liebe wie aus Scheu, wohl
auch irgend ein Sauhirt im Gehege hier ſeinen Mantel
zum Schirme gegen den Nachtfroſt leihen. Jetzt kümmert
ſich freilich kein Menſch in meinen Lumpen um mich!“

„Das iſt ein ſchönes Gleichniß,“ ſagte Eumäus
lachend, „das du uns da erzählt haſt, Fremdling, drum
ſoll es dir auch jetzt weder an Kleidung, noch an irgend
etwas Anderem mangeln. Morgen mußt du freilich wie¬
der mit deinen Lumpen fürlieb nehmen; denn wir ſelbſt
haben nichts Uebriges zum Anlegen, wenn aber der Sohn
des Odyſſeus glücklich heimkehren ſollte, ſo wird er dich
ganz gewiß mit Mantel und Leibrock beſchenken, und
dich geleiten laſſen, wohin du wünſcheſt.“ So ſprechend
erhob ſich Eumäus, und bereitete ſeinem Gaſte nicht
weit vom Feuerherd ein Bett, das er ihm aus Schaf¬
pelzen und Ziegenhäuten zurecht machte, und nachdem
ſich Odyſſeus darauf niedergelegt, deckte er ihn mit einem
dichten großen Mantel zu, den er ſelbſt bei den heftigen
Winterſtürmen anzuziehen pflegte.

So lag denn der Held warm gebettet, und ſchickte
ſich zum Schlummer an; neben ihm legten ſich auch
die Knechte zum Schlafe nieder; aber Eumäus wählte

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[190/0212] warnenden Traum geſendet: wir haben uns zu weit von den Schiffen entfernt, will nicht einer gehen, und dem Agamemnon die Aufforderung bringen, uns noch mehr Streitgenoſſen zu ſchicken? Auf dieſe Worte ſprang einer unſrer Krieger, Thoas, der Sohn des Andrämon, dienſt¬ bereit vom Boden auf, legte ſeinen Mantel von ſich, und eilte zu den Schiffen. Ich aber wickelte mich behaglich in denſelben und ſchlief nun getroſt bis zur Morgenröthe. Ja, wär' ich noch der junge ſtattliche Mann wie da¬ mals, ſo würde mir, aus Liebe wie aus Scheu, wohl auch irgend ein Sauhirt im Gehege hier ſeinen Mantel zum Schirme gegen den Nachtfroſt leihen. Jetzt kümmert ſich freilich kein Menſch in meinen Lumpen um mich!“ „Das iſt ein ſchönes Gleichniß,“ ſagte Eumäus lachend, „das du uns da erzählt haſt, Fremdling, drum ſoll es dir auch jetzt weder an Kleidung, noch an irgend etwas Anderem mangeln. Morgen mußt du freilich wie¬ der mit deinen Lumpen fürlieb nehmen; denn wir ſelbſt haben nichts Uebriges zum Anlegen, wenn aber der Sohn des Odyſſeus glücklich heimkehren ſollte, ſo wird er dich ganz gewiß mit Mantel und Leibrock beſchenken, und dich geleiten laſſen, wohin du wünſcheſt.“ So ſprechend erhob ſich Eumäus, und bereitete ſeinem Gaſte nicht weit vom Feuerherd ein Bett, das er ihm aus Schaf¬ pelzen und Ziegenhäuten zurecht machte, und nachdem ſich Odyſſeus darauf niedergelegt, deckte er ihn mit einem dichten großen Mantel zu, den er ſelbſt bei den heftigen Winterſtürmen anzuziehen pflegte. So lag denn der Held warm gebettet, und ſchickte ſich zum Schlummer an; neben ihm legten ſich auch die Knechte zum Schlafe nieder; aber Eumäus wählte

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 190. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/212>, abgerufen am 19.04.2024.