Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

mit der Hand, musterten es mit den Augen, feilschten
um den Preis. Während dessen gab der Mann (denn
es war ein Bote der Phönizier) dem Weib einen heim¬
lichen Wink. Kaum hatte er das Haus verlassen, so
nahm diese mich an der Hand und entführte mich aus
dem Palast. Im Vorsaal fand sie Tische und Becher
für Gäste des Vaters aus der Rathsversammlung ge¬
rüstet. Da sah ich, wie sie schnell drei goldene Gefäße
hinwegnahm und im Wurf ihres Gewandes verbarg;
in meiner Einfalt besann ich mich nicht darüber, sondern
folgte ihr. Die Sonne war eben am Untergehen, als
wir im Hafen anlangten und mit der übrigen Mann¬
schaft das Schiff bestiegen.

Wir fuhren mit günstigem Winde ab und mochten
etwa sechs Tage lang gesteuert seyn, als das verräthe¬
rische Weib, vom Pfeile Diana's, wie man sagt, ge¬
troffen, plötzlich im Schiffsraume todt zu Boden fiel, wie
ein Seehuhn, das der Jäger geschossen. Man warf sie
über Bord den Fischen zur Beute und ich kleines Kind
blieb allein, ohne einen Menschen, der sich meiner an¬
genommen hätte, auf dem Schiffe. Die Phönizier aber
landeten endlich in Ithaka, wo mich der alte Laertes
von den Kaufleuten erhandelte. Auf diese Weise habe
ich zuerst unsre Insel mit Augen gesehen."

"Nun," sprach Odysseus, "du darfst doch nicht
ganz unzufrieden mit deinem Schicksale seyn, denn Ju¬
piter hat dir zu dem Bösen doch auch Gutes bescheert,
und einem freundlichen Mann in die Hand gegeben, der
es dir an nichts fehlen ließ, und auf dessen Gute du
noch immer in Gemächlichkeit lebst! Ich Armer dagegen
irre in beständiger Verbannung umher!"

mit der Hand, muſterten es mit den Augen, feilſchten
um den Preis. Während deſſen gab der Mann (denn
es war ein Bote der Phönizier) dem Weib einen heim¬
lichen Wink. Kaum hatte er das Haus verlaſſen, ſo
nahm dieſe mich an der Hand und entführte mich aus
dem Palaſt. Im Vorſaal fand ſie Tiſche und Becher
für Gäſte des Vaters aus der Rathsverſammlung ge¬
rüſtet. Da ſah ich, wie ſie ſchnell drei goldene Gefäße
hinwegnahm und im Wurf ihres Gewandes verbarg;
in meiner Einfalt beſann ich mich nicht darüber, ſondern
folgte ihr. Die Sonne war eben am Untergehen, als
wir im Hafen anlangten und mit der übrigen Mann¬
ſchaft das Schiff beſtiegen.

Wir fuhren mit günſtigem Winde ab und mochten
etwa ſechs Tage lang geſteuert ſeyn, als das verräthe¬
riſche Weib, vom Pfeile Diana's, wie man ſagt, ge¬
troffen, plötzlich im Schiffsraume todt zu Boden fiel, wie
ein Seehuhn, das der Jäger geſchoſſen. Man warf ſie
über Bord den Fiſchen zur Beute und ich kleines Kind
blieb allein, ohne einen Menſchen, der ſich meiner an¬
genommen hätte, auf dem Schiffe. Die Phönizier aber
landeten endlich in Ithaka, wo mich der alte Laertes
von den Kaufleuten erhandelte. Auf dieſe Weiſe habe
ich zuerſt unſre Inſel mit Augen geſehen.“

„Nun,“ ſprach Odyſſeus, „du darfſt doch nicht
ganz unzufrieden mit deinem Schickſale ſeyn, denn Ju¬
piter hat dir zu dem Böſen doch auch Gutes beſcheert,
und einem freundlichen Mann in die Hand gegeben, der
es dir an nichts fehlen ließ, und auf deſſen Gute du
noch immer in Gemächlichkeit lebſt! Ich Armer dagegen
irre in beſtändiger Verbannung umher!“

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0222" n="200"/>
mit der Hand, mu&#x017F;terten es mit den Augen, feil&#x017F;chten<lb/>
um den Preis. Während de&#x017F;&#x017F;en gab der Mann (denn<lb/>
es war ein Bote der Phönizier) dem Weib einen heim¬<lb/>
lichen Wink. Kaum hatte er das Haus verla&#x017F;&#x017F;en, &#x017F;o<lb/>
nahm die&#x017F;e mich an der Hand und entführte mich aus<lb/>
dem Pala&#x017F;t. Im Vor&#x017F;aal fand &#x017F;ie Ti&#x017F;che und Becher<lb/>
für Gä&#x017F;te des Vaters aus der Rathsver&#x017F;ammlung ge¬<lb/>&#x017F;tet. Da &#x017F;ah ich, wie &#x017F;ie &#x017F;chnell drei goldene Gefäße<lb/>
hinwegnahm und im Wurf ihres Gewandes verbarg;<lb/>
in meiner Einfalt be&#x017F;ann ich mich nicht darüber, &#x017F;ondern<lb/>
folgte ihr. Die Sonne war eben am Untergehen, als<lb/>
wir im Hafen anlangten und mit der übrigen Mann¬<lb/>
&#x017F;chaft das Schiff be&#x017F;tiegen.</p><lb/>
            <p>Wir fuhren mit gün&#x017F;tigem Winde ab und mochten<lb/>
etwa &#x017F;echs Tage lang ge&#x017F;teuert &#x017F;eyn, als das verräthe¬<lb/>
ri&#x017F;che Weib, vom Pfeile Diana's, wie man &#x017F;agt, ge¬<lb/>
troffen, plötzlich im Schiffsraume todt zu Boden fiel, wie<lb/>
ein Seehuhn, das der Jäger ge&#x017F;cho&#x017F;&#x017F;en. Man warf &#x017F;ie<lb/>
über Bord den Fi&#x017F;chen zur Beute und ich kleines Kind<lb/>
blieb allein, ohne einen Men&#x017F;chen, der &#x017F;ich meiner an¬<lb/>
genommen hätte, auf dem Schiffe. Die Phönizier aber<lb/>
landeten endlich in Ithaka, wo mich der alte Laertes<lb/>
von den Kaufleuten erhandelte. Auf die&#x017F;e Wei&#x017F;e habe<lb/>
ich zuer&#x017F;t un&#x017F;re In&#x017F;el mit Augen ge&#x017F;ehen.&#x201C;</p><lb/>
            <p>&#x201E;Nun,&#x201C; &#x017F;prach Ody&#x017F;&#x017F;eus, &#x201E;du darf&#x017F;t doch nicht<lb/>
ganz unzufrieden mit deinem Schick&#x017F;ale &#x017F;eyn, denn Ju¬<lb/>
piter hat dir zu dem Bö&#x017F;en doch auch Gutes be&#x017F;cheert,<lb/>
und einem freundlichen Mann in die Hand gegeben, der<lb/>
es dir an nichts fehlen ließ, und auf de&#x017F;&#x017F;en Gute du<lb/>
noch immer in Gemächlichkeit leb&#x017F;t! Ich Armer dagegen<lb/>
irre in be&#x017F;tändiger Verbannung umher!&#x201C;<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[200/0222] mit der Hand, muſterten es mit den Augen, feilſchten um den Preis. Während deſſen gab der Mann (denn es war ein Bote der Phönizier) dem Weib einen heim¬ lichen Wink. Kaum hatte er das Haus verlaſſen, ſo nahm dieſe mich an der Hand und entführte mich aus dem Palaſt. Im Vorſaal fand ſie Tiſche und Becher für Gäſte des Vaters aus der Rathsverſammlung ge¬ rüſtet. Da ſah ich, wie ſie ſchnell drei goldene Gefäße hinwegnahm und im Wurf ihres Gewandes verbarg; in meiner Einfalt beſann ich mich nicht darüber, ſondern folgte ihr. Die Sonne war eben am Untergehen, als wir im Hafen anlangten und mit der übrigen Mann¬ ſchaft das Schiff beſtiegen. Wir fuhren mit günſtigem Winde ab und mochten etwa ſechs Tage lang geſteuert ſeyn, als das verräthe¬ riſche Weib, vom Pfeile Diana's, wie man ſagt, ge¬ troffen, plötzlich im Schiffsraume todt zu Boden fiel, wie ein Seehuhn, das der Jäger geſchoſſen. Man warf ſie über Bord den Fiſchen zur Beute und ich kleines Kind blieb allein, ohne einen Menſchen, der ſich meiner an¬ genommen hätte, auf dem Schiffe. Die Phönizier aber landeten endlich in Ithaka, wo mich der alte Laertes von den Kaufleuten erhandelte. Auf dieſe Weiſe habe ich zuerſt unſre Inſel mit Augen geſehen.“ „Nun,“ ſprach Odyſſeus, „du darfſt doch nicht ganz unzufrieden mit deinem Schickſale ſeyn, denn Ju¬ piter hat dir zu dem Böſen doch auch Gutes beſcheert, und einem freundlichen Mann in die Hand gegeben, der es dir an nichts fehlen ließ, und auf deſſen Gute du noch immer in Gemächlichkeit lebſt! Ich Armer dagegen irre in beſtändiger Verbannung umher!“

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/222
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 200. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/222>, abgerufen am 29.03.2024.