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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

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des tückischen Vorschlages also an: "Antinous, du frecher
Unheilstifter, mit Unrecht rühmt dich Ithakas Volk als
den verständigsten unter deinen Genossen; nie bist du das
gewesen. Du verachtest die Stimme der Unglücklichen,
auf welche doch Jupiter selbst horcht, und bist verwegen
genug, auf den Tod meines Sohnes Telemach zu sinnen.
Erinnerst du dich nicht mehr, wie dein Vater Eupithes,
von seinen Feinden verfolgt, weil er Seeräuberei gegen
unsere Verbündeten getrieben, schutzflehend in unser Haus
geflohen kam? Seine Verfolger wollten ihn tödten und
ihm das Herz aus dem Leibe reißen; Odysseus aber
war es, der die Tobenden abhielt und besänftigte. Und
du, sein Sohn, willst zum Danke das Gut des Odys¬
seus verschwenden, wirbst um seine Gattin, und willst
sein einziges Kind ermorden? Du thätest besser daran,
auch die Andern von solchem Frevel abzuhalten."

Statt seiner antwortete Eurymachus: "Edle Pene¬
lope, sey nicht bekümmert um das Leben deines Sohnes.
Nie, so lange ich lebe, wird es ein Mann wagen, Hand
an ihn zu legen. Hat doch auch mich Odysseus manch¬
mal als Kind auf den Knieen gewiegt und mir einen
guten Bissen in den Mund gegeben! Deßwegen ist mir
auch sein Sohn der geliebteste unter allen Menschen,
den Tod soll er nicht zu fürchten haben, wenigstens nicht
von den Freiern: kommt er von Gott, dann kann ihm
freilich Niemand ausweichen!" So sprach der Falsche
mit der freundlichsten Miene, im Herzen aber sann er
auf nichts als Verderben.

Penelope kehrte wieder in ihr Frauengemach zurück,
warf sich aufs Lager und weinte um ihren Gemahl,
bis ihr der Schlummer die Augen zudrückte.


des tückiſchen Vorſchlages alſo an: „Antinous, du frecher
Unheilſtifter, mit Unrecht rühmt dich Ithakas Volk als
den verſtändigſten unter deinen Genoſſen; nie biſt du das
geweſen. Du verachteſt die Stimme der Unglücklichen,
auf welche doch Jupiter ſelbſt horcht, und biſt verwegen
genug, auf den Tod meines Sohnes Telemach zu ſinnen.
Erinnerſt du dich nicht mehr, wie dein Vater Eupithes,
von ſeinen Feinden verfolgt, weil er Seeräuberei gegen
unſere Verbündeten getrieben, ſchutzflehend in unſer Haus
geflohen kam? Seine Verfolger wollten ihn tödten und
ihm das Herz aus dem Leibe reißen; Odyſſeus aber
war es, der die Tobenden abhielt und beſänftigte. Und
du, ſein Sohn, willſt zum Danke das Gut des Odyſ¬
ſeus verſchwenden, wirbſt um ſeine Gattin, und willſt
ſein einziges Kind ermorden? Du thäteſt beſſer daran,
auch die Andern von ſolchem Frevel abzuhalten.“

Statt ſeiner antwortete Eurymachus: „Edle Pene¬
lope, ſey nicht bekümmert um das Leben deines Sohnes.
Nie, ſo lange ich lebe, wird es ein Mann wagen, Hand
an ihn zu legen. Hat doch auch mich Odyſſeus manch¬
mal als Kind auf den Knieen gewiegt und mir einen
guten Biſſen in den Mund gegeben! Deßwegen iſt mir
auch ſein Sohn der geliebteſte unter allen Menſchen,
den Tod ſoll er nicht zu fürchten haben, wenigſtens nicht
von den Freiern: kommt er von Gott, dann kann ihm
freilich Niemand ausweichen!“ So ſprach der Falſche
mit der freundlichſten Miene, im Herzen aber ſann er
auf nichts als Verderben.

Penelope kehrte wieder in ihr Frauengemach zurück,
warf ſich aufs Lager und weinte um ihren Gemahl,
bis ihr der Schlummer die Augen zudrückte.


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[212/0234] des tückiſchen Vorſchlages alſo an: „Antinous, du frecher Unheilſtifter, mit Unrecht rühmt dich Ithakas Volk als den verſtändigſten unter deinen Genoſſen; nie biſt du das geweſen. Du verachteſt die Stimme der Unglücklichen, auf welche doch Jupiter ſelbſt horcht, und biſt verwegen genug, auf den Tod meines Sohnes Telemach zu ſinnen. Erinnerſt du dich nicht mehr, wie dein Vater Eupithes, von ſeinen Feinden verfolgt, weil er Seeräuberei gegen unſere Verbündeten getrieben, ſchutzflehend in unſer Haus geflohen kam? Seine Verfolger wollten ihn tödten und ihm das Herz aus dem Leibe reißen; Odyſſeus aber war es, der die Tobenden abhielt und beſänftigte. Und du, ſein Sohn, willſt zum Danke das Gut des Odyſ¬ ſeus verſchwenden, wirbſt um ſeine Gattin, und willſt ſein einziges Kind ermorden? Du thäteſt beſſer daran, auch die Andern von ſolchem Frevel abzuhalten.“ Statt ſeiner antwortete Eurymachus: „Edle Pene¬ lope, ſey nicht bekümmert um das Leben deines Sohnes. Nie, ſo lange ich lebe, wird es ein Mann wagen, Hand an ihn zu legen. Hat doch auch mich Odyſſeus manch¬ mal als Kind auf den Knieen gewiegt und mir einen guten Biſſen in den Mund gegeben! Deßwegen iſt mir auch ſein Sohn der geliebteſte unter allen Menſchen, den Tod ſoll er nicht zu fürchten haben, wenigſtens nicht von den Freiern: kommt er von Gott, dann kann ihm freilich Niemand ausweichen!“ So ſprach der Falſche mit der freundlichſten Miene, im Herzen aber ſann er auf nichts als Verderben. Penelope kehrte wieder in ihr Frauengemach zurück, warf ſich aufs Lager und weinte um ihren Gemahl, bis ihr der Schlummer die Augen zudrückte.

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 212. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/234>, abgerufen am 28.03.2024.