Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

reich an Rathschluß und an Kraft ist; ich aber bin
eine Göttin, und beschirme dich in jeder Gefahr; und
wenn dich fünfzig Schaaren voll Mordlust umringten,
dennoch würdest du es hinausführen! Ueberlaß dich im¬
merhin dem Schlummer, denn endlich tauchst du aus
der Trübsal auf." So sprach sie und bedeckte ihm die
Augenlieder mit süßem Schlaf.

Penelope ihrerseits erwachte nach einem kurzen
Schlummer, setzte sich aufrecht in ihrem Bette hin und
fing laut an zu weinen. Unter Thränen richtete sie ihr
Gebet an die Göttin Artemis: "Jupiters heilige Tochter,"
rief sie flehend, "träfe doch auf der Stelle dein Pfeil
mein Herz, oder raffte mich ein Sturmwind hinweg
und wärfe mich ans fernste Ufer des Oceanus, ehe ich
meinem Gemahl Odysseus untreu werden und mich dem
schlechteren Manne vermählen muß! Erträglich ist das
Leiden, wenn man den Tag durchweint, und doch die
Nacht über Ruhe hat; mich aber peinigt ein Dämon
selbst im Schlafe mit den schmerzlichsten Träumen! So
war mir im Augenblicke noch, als stände mein Gatte
mir zur Seite, herrlich von Gestalt, ganz wie er mit
dem Kriegsheere von dannen zog, und mein Herz war
voll Freude, denn ich meinte zuversichtlich, daß es Wahr¬
heit sey!" So schluchzte Penelope, und Odysseus vernahm
die Stimme der Weinenden. Es war ihm ganz bange
vor der Zeit erkannt zu werden. Eilig raffte er sich auf,
verließ den Palast, und unter freiem Himmel betete er
zu Jupiter um ein günstiges Zeichen für seine Plane.
Da erschien ein gewaltiges Licht am Himmel, und ein
plötzlicher Donner rollte über dem Palaste hin. In der
nahen Mühle des Palastes hielt eine Müllerin still, die

reich an Rathſchluß und an Kraft iſt; ich aber bin
eine Göttin, und beſchirme dich in jeder Gefahr; und
wenn dich fünfzig Schaaren voll Mordluſt umringten,
dennoch würdeſt du es hinausführen! Ueberlaß dich im¬
merhin dem Schlummer, denn endlich tauchſt du aus
der Trübſal auf.“ So ſprach ſie und bedeckte ihm die
Augenlieder mit ſüßem Schlaf.

Penelope ihrerſeits erwachte nach einem kurzen
Schlummer, ſetzte ſich aufrecht in ihrem Bette hin und
fing laut an zu weinen. Unter Thränen richtete ſie ihr
Gebet an die Göttin Artemis: „Jupiters heilige Tochter,“
rief ſie flehend, „träfe doch auf der Stelle dein Pfeil
mein Herz, oder raffte mich ein Sturmwind hinweg
und wärfe mich ans fernſte Ufer des Oceanus, ehe ich
meinem Gemahl Odyſſeus untreu werden und mich dem
ſchlechteren Manne vermählen muß! Erträglich iſt das
Leiden, wenn man den Tag durchweint, und doch die
Nacht über Ruhe hat; mich aber peinigt ein Dämon
ſelbſt im Schlafe mit den ſchmerzlichſten Träumen! So
war mir im Augenblicke noch, als ſtände mein Gatte
mir zur Seite, herrlich von Geſtalt, ganz wie er mit
dem Kriegsheere von dannen zog, und mein Herz war
voll Freude, denn ich meinte zuverſichtlich, daß es Wahr¬
heit ſey!“ So ſchluchzte Penelope, und Odyſſeus vernahm
die Stimme der Weinenden. Es war ihm ganz bange
vor der Zeit erkannt zu werden. Eilig raffte er ſich auf,
verließ den Palaſt, und unter freiem Himmel betete er
zu Jupiter um ein günſtiges Zeichen für ſeine Plane.
Da erſchien ein gewaltiges Licht am Himmel, und ein
plötzlicher Donner rollte über dem Palaſte hin. In der
nahen Mühle des Palaſtes hielt eine Müllerin ſtill, die

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0266" n="244"/>
reich an Rath&#x017F;chluß und an Kraft i&#x017F;t; ich aber bin<lb/>
eine Göttin, und be&#x017F;chirme dich in jeder Gefahr; und<lb/>
wenn dich fünfzig Schaaren voll Mordlu&#x017F;t umringten,<lb/>
dennoch würde&#x017F;t du es hinausführen! Ueberlaß dich im¬<lb/>
merhin dem Schlummer, denn endlich tauch&#x017F;t du aus<lb/>
der Trüb&#x017F;al auf.&#x201C; So &#x017F;prach &#x017F;ie und bedeckte ihm die<lb/>
Augenlieder mit &#x017F;üßem Schlaf.</p><lb/>
            <p>Penelope ihrer&#x017F;eits erwachte nach einem kurzen<lb/>
Schlummer, &#x017F;etzte &#x017F;ich aufrecht in ihrem Bette hin und<lb/>
fing laut an zu weinen. Unter Thränen richtete &#x017F;ie ihr<lb/>
Gebet an die Göttin Artemis: &#x201E;Jupiters heilige Tochter,&#x201C;<lb/>
rief &#x017F;ie flehend, &#x201E;träfe doch auf der Stelle dein Pfeil<lb/>
mein Herz, oder raffte mich ein Sturmwind hinweg<lb/>
und wärfe mich ans fern&#x017F;te Ufer des Oceanus, ehe ich<lb/>
meinem Gemahl Ody&#x017F;&#x017F;eus untreu werden und mich dem<lb/>
&#x017F;chlechteren Manne vermählen muß! Erträglich i&#x017F;t das<lb/>
Leiden, wenn man den Tag durchweint, und doch die<lb/>
Nacht über Ruhe hat; mich aber peinigt ein Dämon<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t im Schlafe mit den &#x017F;chmerzlich&#x017F;ten Träumen! So<lb/>
war mir im Augenblicke noch, als &#x017F;tände mein Gatte<lb/>
mir zur Seite, herrlich von Ge&#x017F;talt, ganz wie er mit<lb/>
dem Kriegsheere von dannen zog, und mein Herz war<lb/>
voll Freude, denn ich meinte zuver&#x017F;ichtlich, daß es Wahr¬<lb/>
heit &#x017F;ey!&#x201C; So &#x017F;chluchzte Penelope, und Ody&#x017F;&#x017F;eus vernahm<lb/>
die Stimme der Weinenden. Es war ihm ganz bange<lb/>
vor der Zeit erkannt zu werden. Eilig raffte er &#x017F;ich auf,<lb/>
verließ den Pala&#x017F;t, und unter freiem Himmel betete er<lb/>
zu Jupiter um ein gün&#x017F;tiges Zeichen für &#x017F;eine Plane.<lb/>
Da er&#x017F;chien ein gewaltiges Licht am Himmel, und ein<lb/>
plötzlicher Donner rollte über dem Pala&#x017F;te hin. In der<lb/>
nahen Mühle des Pala&#x017F;tes hielt eine Müllerin &#x017F;till, die<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[244/0266] reich an Rathſchluß und an Kraft iſt; ich aber bin eine Göttin, und beſchirme dich in jeder Gefahr; und wenn dich fünfzig Schaaren voll Mordluſt umringten, dennoch würdeſt du es hinausführen! Ueberlaß dich im¬ merhin dem Schlummer, denn endlich tauchſt du aus der Trübſal auf.“ So ſprach ſie und bedeckte ihm die Augenlieder mit ſüßem Schlaf. Penelope ihrerſeits erwachte nach einem kurzen Schlummer, ſetzte ſich aufrecht in ihrem Bette hin und fing laut an zu weinen. Unter Thränen richtete ſie ihr Gebet an die Göttin Artemis: „Jupiters heilige Tochter,“ rief ſie flehend, „träfe doch auf der Stelle dein Pfeil mein Herz, oder raffte mich ein Sturmwind hinweg und wärfe mich ans fernſte Ufer des Oceanus, ehe ich meinem Gemahl Odyſſeus untreu werden und mich dem ſchlechteren Manne vermählen muß! Erträglich iſt das Leiden, wenn man den Tag durchweint, und doch die Nacht über Ruhe hat; mich aber peinigt ein Dämon ſelbſt im Schlafe mit den ſchmerzlichſten Träumen! So war mir im Augenblicke noch, als ſtände mein Gatte mir zur Seite, herrlich von Geſtalt, ganz wie er mit dem Kriegsheere von dannen zog, und mein Herz war voll Freude, denn ich meinte zuverſichtlich, daß es Wahr¬ heit ſey!“ So ſchluchzte Penelope, und Odyſſeus vernahm die Stimme der Weinenden. Es war ihm ganz bange vor der Zeit erkannt zu werden. Eilig raffte er ſich auf, verließ den Palaſt, und unter freiem Himmel betete er zu Jupiter um ein günſtiges Zeichen für ſeine Plane. Da erſchien ein gewaltiges Licht am Himmel, und ein plötzlicher Donner rollte über dem Palaſte hin. In der nahen Mühle des Palaſtes hielt eine Müllerin ſtill, die

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/266
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 244. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/266>, abgerufen am 19.04.2024.