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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

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folgte er mit seiner Kriegerschaar dem abgesandten Herold.
Vor der Stadt Mycene kam ihm das gesammte Volk,
seinen Vetter Aegisthus, der im ganzen Lande als könig¬
licher Verwalter des Reiches galt, an der Spitze, ent¬
gegen. Alsdann erschien auch, von den Frauen ihres
Hauses begleitet und von den streng bewachten Kindern
umgeben, die Königin Klytämnestra. Wie man bei er¬
heuchelter Freude pflegt, empfing sie den Gemahl mit
allen ersinnlichen Ehrenbezeugungen und mit übertriebener
Ehrfurcht, ja statt ihn zu umfangen, warf sie sich vor
ihm auf die Kniee nieder und ergoß sich in Glückwün¬
schungen und Lobsprüchen. Agamemnon aber eilte freu¬
dig auf sie zu, erhob sie vom Boden, umarmte sie und
sprach: "Was denkst du, Leda's Tochter, daß du, wie
eine Sklavin den Barbarenherrn, fußfällig im Staube
dich wälzend, mich empfängst? und was sollen diese
herrlichen gestickten Teppiche, die unter meinen Fußtritt
gebreitet sind? So empfängt man unsterbliche Götter
und nicht sterbliche schwache Menschen. Ehre mich so,
daß die Himmlischen mich nicht beneiden!"

Nachdem er die Gattin so begrüßt und die Kinder
umarmt und geküßt, wandte er sich um zu Aegisthus,
der mit den Häuptlingen der Stadt seitwärts stand,
reichte ihm brüderlich die Hand und sagte ihm freund¬
lichen Dank für die sorgfältige Verwaltung des Landes.
Dann löste er die Riemen seiner Schuhe und ging bar¬
fuß über das kostbare Gewebe der Teppiche durch die
ganze Stadt bis zu seinem Pallaste. In seinem Gefolge
befand sich auch Kassandra, die weissagende Tochter des
Priamus, die in der Beute dem Völkerfürsten, der sie
von den ruchlosen Händen Ajax des Lokrers befreit hatte,

folgte er mit ſeiner Kriegerſchaar dem abgeſandten Herold.
Vor der Stadt Mycene kam ihm das geſammte Volk,
ſeinen Vetter Aegiſthus, der im ganzen Lande als könig¬
licher Verwalter des Reiches galt, an der Spitze, ent¬
gegen. Alsdann erſchien auch, von den Frauen ihres
Hauſes begleitet und von den ſtreng bewachten Kindern
umgeben, die Königin Klytämneſtra. Wie man bei er¬
heuchelter Freude pflegt, empfing ſie den Gemahl mit
allen erſinnlichen Ehrenbezeugungen und mit übertriebener
Ehrfurcht, ja ſtatt ihn zu umfangen, warf ſie ſich vor
ihm auf die Kniee nieder und ergoß ſich in Glückwün¬
ſchungen und Lobſprüchen. Agamemnon aber eilte freu¬
dig auf ſie zu, erhob ſie vom Boden, umarmte ſie und
ſprach: „Was denkſt du, Leda's Tochter, daß du, wie
eine Sklavin den Barbarenherrn, fußfällig im Staube
dich wälzend, mich empfängſt? und was ſollen dieſe
herrlichen geſtickten Teppiche, die unter meinen Fußtritt
gebreitet ſind? So empfängt man unſterbliche Götter
und nicht ſterbliche ſchwache Menſchen. Ehre mich ſo,
daß die Himmliſchen mich nicht beneiden!“

Nachdem er die Gattin ſo begrüßt und die Kinder
umarmt und geküßt, wandte er ſich um zu Aegiſthus,
der mit den Häuptlingen der Stadt ſeitwärts ſtand,
reichte ihm brüderlich die Hand und ſagte ihm freund¬
lichen Dank für die ſorgfältige Verwaltung des Landes.
Dann löste er die Riemen ſeiner Schuhe und ging bar¬
fuß über das koſtbare Gewebe der Teppiche durch die
ganze Stadt bis zu ſeinem Pallaſte. In ſeinem Gefolge
befand ſich auch Kaſſandra, die weiſſagende Tochter des
Priamus, die in der Beute dem Völkerfürſten, der ſie
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[9/0031] folgte er mit ſeiner Kriegerſchaar dem abgeſandten Herold. Vor der Stadt Mycene kam ihm das geſammte Volk, ſeinen Vetter Aegiſthus, der im ganzen Lande als könig¬ licher Verwalter des Reiches galt, an der Spitze, ent¬ gegen. Alsdann erſchien auch, von den Frauen ihres Hauſes begleitet und von den ſtreng bewachten Kindern umgeben, die Königin Klytämneſtra. Wie man bei er¬ heuchelter Freude pflegt, empfing ſie den Gemahl mit allen erſinnlichen Ehrenbezeugungen und mit übertriebener Ehrfurcht, ja ſtatt ihn zu umfangen, warf ſie ſich vor ihm auf die Kniee nieder und ergoß ſich in Glückwün¬ ſchungen und Lobſprüchen. Agamemnon aber eilte freu¬ dig auf ſie zu, erhob ſie vom Boden, umarmte ſie und ſprach: „Was denkſt du, Leda's Tochter, daß du, wie eine Sklavin den Barbarenherrn, fußfällig im Staube dich wälzend, mich empfängſt? und was ſollen dieſe herrlichen geſtickten Teppiche, die unter meinen Fußtritt gebreitet ſind? So empfängt man unſterbliche Götter und nicht ſterbliche ſchwache Menſchen. Ehre mich ſo, daß die Himmliſchen mich nicht beneiden!“ Nachdem er die Gattin ſo begrüßt und die Kinder umarmt und geküßt, wandte er ſich um zu Aegiſthus, der mit den Häuptlingen der Stadt ſeitwärts ſtand, reichte ihm brüderlich die Hand und ſagte ihm freund¬ lichen Dank für die ſorgfältige Verwaltung des Landes. Dann löste er die Riemen ſeiner Schuhe und ging bar¬ fuß über das koſtbare Gewebe der Teppiche durch die ganze Stadt bis zu ſeinem Pallaſte. In ſeinem Gefolge befand ſich auch Kaſſandra, die weiſſagende Tochter des Priamus, die in der Beute dem Völkerfürſten, der ſie von den ruchloſen Händen Ajax des Lokrers befreit hatte,

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/31>, abgerufen am 28.03.2024.