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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

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herzte ihn zärtlich, ohne zu ahnen, welch ein mächtiger
Gott sich ihr anschmiege. Amor aber, den listigen Be¬
fehlen seiner Mutter gehorsam, verwischte allmählig das
Bild des verstorbenen Gemahls in ihrem Geist, und
reizte die erstorbenen Gefühle ihrer Brust zu neuer leben¬
diger Neigung.

Der Schmaus ging zu Ende, die Gerichte wurden
von den Tafeln genommen, gewaltige Weinkrüge aufge¬
stellt, und die Becher aufs Neue gefüllt. Lautes Rau¬
schen wälzte sich durch die Säle des Palastes; die Nacht
war herbeigekommen, und flammende Kronleuchter hingen
von dem goldenen Deckengetäfel herunter. Jetzt ließ sich
Dido die herrlichste Schaale, schwer von Gold und Edel¬
steinen, reichen, und füllte sie bis zum Rande mit Wein;
sie war längst der Mundbecher aller tyrischen Könige.
Diese hielt die Königin, von ihrem Throne sich erhebend,
hoch in der Rechten, und in diesem Augenblicke ver¬
stummte der Lärm in den Sälen des Palastes. "Jupiter,"
sprach sie mit feierlicher Stimme, "mächtiger Beschirmer
des Gastrechtes, laß diesen Tag den Tyriern und unsern
trojanischen Freunden günstig seyn, und unsere späten
Enkel mögen desselben noch mit Lust gedenken! Auch
du, Freudengeber Bacchus, auch du, huldreiche Juno,
sey mit uns!" So sprechend, goß sie das Trankopfer
auf den Tisch aus, nippte dann von der goldenen Schaale
selbst, und bot sie dem tyrischen Häuptlinge, der ihr zu¬
nächst saß. Nun machte der Pokal bei Tyriern und
Trojanern die Runde, und derweil sang ein lockiger Sän¬
ger zur goldenen Zither sinnvolle Lieder vom Ursprunge
der Welt, der Menschen und der Thiere. Als der Ge¬
sang zu Ende war, hing Dido an dem Munde des

herzte ihn zärtlich, ohne zu ahnen, welch ein mächtiger
Gott ſich ihr anſchmiege. Amor aber, den liſtigen Be¬
fehlen ſeiner Mutter gehorſam, verwiſchte allmählig das
Bild des verſtorbenen Gemahls in ihrem Geiſt, und
reizte die erſtorbenen Gefühle ihrer Bruſt zu neuer leben¬
diger Neigung.

Der Schmaus ging zu Ende, die Gerichte wurden
von den Tafeln genommen, gewaltige Weinkrüge aufge¬
ſtellt, und die Becher aufs Neue gefüllt. Lautes Rau¬
ſchen wälzte ſich durch die Säle des Palaſtes; die Nacht
war herbeigekommen, und flammende Kronleuchter hingen
von dem goldenen Deckengetäfel herunter. Jetzt ließ ſich
Dido die herrlichſte Schaale, ſchwer von Gold und Edel¬
ſteinen, reichen, und füllte ſie bis zum Rande mit Wein;
ſie war längſt der Mundbecher aller tyriſchen Könige.
Dieſe hielt die Königin, von ihrem Throne ſich erhebend,
hoch in der Rechten, und in dieſem Augenblicke ver¬
ſtummte der Lärm in den Sälen des Palaſtes. „Jupiter,“
ſprach ſie mit feierlicher Stimme, „mächtiger Beſchirmer
des Gaſtrechtes, laß dieſen Tag den Tyriern und unſern
trojaniſchen Freunden günſtig ſeyn, und unſere ſpäten
Enkel mögen deſſelben noch mit Luſt gedenken! Auch
du, Freudengeber Bacchus, auch du, huldreiche Juno,
ſey mit uns!“ So ſprechend, goß ſie das Trankopfer
auf den Tiſch aus, nippte dann von der goldenen Schaale
ſelbſt, und bot ſie dem tyriſchen Häuptlinge, der ihr zu¬
nächſt ſaß. Nun machte der Pokal bei Tyriern und
Trojanern die Runde, und derweil ſang ein lockiger Sän¬
ger zur goldenen Zither ſinnvolle Lieder vom Urſprunge
der Welt, der Menſchen und der Thiere. Als der Ge¬
ſang zu Ende war, hing Dido an dem Munde des

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[329/0351] herzte ihn zärtlich, ohne zu ahnen, welch ein mächtiger Gott ſich ihr anſchmiege. Amor aber, den liſtigen Be¬ fehlen ſeiner Mutter gehorſam, verwiſchte allmählig das Bild des verſtorbenen Gemahls in ihrem Geiſt, und reizte die erſtorbenen Gefühle ihrer Bruſt zu neuer leben¬ diger Neigung. Der Schmaus ging zu Ende, die Gerichte wurden von den Tafeln genommen, gewaltige Weinkrüge aufge¬ ſtellt, und die Becher aufs Neue gefüllt. Lautes Rau¬ ſchen wälzte ſich durch die Säle des Palaſtes; die Nacht war herbeigekommen, und flammende Kronleuchter hingen von dem goldenen Deckengetäfel herunter. Jetzt ließ ſich Dido die herrlichſte Schaale, ſchwer von Gold und Edel¬ ſteinen, reichen, und füllte ſie bis zum Rande mit Wein; ſie war längſt der Mundbecher aller tyriſchen Könige. Dieſe hielt die Königin, von ihrem Throne ſich erhebend, hoch in der Rechten, und in dieſem Augenblicke ver¬ ſtummte der Lärm in den Sälen des Palaſtes. „Jupiter,“ ſprach ſie mit feierlicher Stimme, „mächtiger Beſchirmer des Gaſtrechtes, laß dieſen Tag den Tyriern und unſern trojaniſchen Freunden günſtig ſeyn, und unſere ſpäten Enkel mögen deſſelben noch mit Luſt gedenken! Auch du, Freudengeber Bacchus, auch du, huldreiche Juno, ſey mit uns!“ So ſprechend, goß ſie das Trankopfer auf den Tiſch aus, nippte dann von der goldenen Schaale ſelbſt, und bot ſie dem tyriſchen Häuptlinge, der ihr zu¬ nächſt ſaß. Nun machte der Pokal bei Tyriern und Trojanern die Runde, und derweil ſang ein lockiger Sän¬ ger zur goldenen Zither ſinnvolle Lieder vom Urſprunge der Welt, der Menſchen und der Thiere. Als der Ge¬ ſang zu Ende war, hing Dido an dem Munde des

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 329. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/351>, abgerufen am 24.04.2024.