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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

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absichtlich gekommen seyn! wisset, daß ihr an keiner
ungastlichen Küste gelandet habt. Verkennet in uns
Latinern nicht das harmlose Geschlecht des Saturnus,
das ohne Zwang und Gesetz Billigkeit übt, und den alten,
frommen Gebräuchen des Gottes mit edler Freiheit folgt!
Auch erinnere ich mich wohl noch (obgleich die Sage
durch viele Jahrhunderte verdunkelt ist), daß euer Ahn¬
herr Dardanus aus dieser unserer Gegend abstammen solle."

Ihm erwiederte Ilioneus, der von Allen zum
Sprecher ausersehen war: "Kein Orkan hat uns an
dein Gestade genöthigt, erhabener Sohn des Faunus,
kein Gestirn hat uns in der Richtung des Weges ge¬
täuscht! Mit freiem Willen erreichten wir dein Ufer, und
bewußte Absicht hat uns an dasselbe geführt. Wir sind
aus einem herrlichen Reiche vertrieben worden, und der
Erzvater unseres Geschlechtes ist Jupiter selbst. Auch
unser Fürst und Anführer Aeneas, der Sohn der Göttin
Venus, ist Jupiters Enkel, und er selbst ist es, der uns
in deinen Palast gesendet hat. Den Sturm, der Troja
niedergerissen, kennt alle Welt; auch dir ist er nicht un¬
bekannt geblieben. Dieser Verwüstung sind wir entflohen
und flehen euch um einen Fleck an, wo wir die Götter
unserer Heimath aufstellen können, um ein sicheres Ufer,
um Wasser und Luft, die ein gemeinsames Gut aller
Sterblichen sind! Es wird Italien nie gereuen, Troja in
seinen Schooß aufgenommen zu haben. Stammt doch
Dardanus von hier, und ruft uns hierher zurück. Auch
trieb uns ein besonderes Gebot der Götter, dieses Land
aufzusuchen. Damit du aber erkennest, o König, daß wir
in Wahrheit diejenigen sind, für welche wir uns aus¬
geben, so verehrt dir unser Führer Aeneas die Geschenke,

Schwab, das klass. Alterthum. III. 23

abſichtlich gekommen ſeyn! wiſſet, daß ihr an keiner
ungaſtlichen Küſte gelandet habt. Verkennet in uns
Latinern nicht das harmloſe Geſchlecht des Saturnus,
das ohne Zwang und Geſetz Billigkeit übt, und den alten,
frommen Gebräuchen des Gottes mit edler Freiheit folgt!
Auch erinnere ich mich wohl noch (obgleich die Sage
durch viele Jahrhunderte verdunkelt iſt), daß euer Ahn¬
herr Dardanus aus dieſer unſerer Gegend abſtammen ſolle.“

Ihm erwiederte Ilioneus, der von Allen zum
Sprecher auserſehen war: „Kein Orkan hat uns an
dein Geſtade genöthigt, erhabener Sohn des Faunus,
kein Geſtirn hat uns in der Richtung des Weges ge¬
täuſcht! Mit freiem Willen erreichten wir dein Ufer, und
bewußte Abſicht hat uns an daſſelbe geführt. Wir ſind
aus einem herrlichen Reiche vertrieben worden, und der
Erzvater unſeres Geſchlechtes iſt Jupiter ſelbſt. Auch
unſer Fürſt und Anführer Aeneas, der Sohn der Göttin
Venus, iſt Jupiters Enkel, und er ſelbſt iſt es, der uns
in deinen Palaſt geſendet hat. Den Sturm, der Troja
niedergeriſſen, kennt alle Welt; auch dir iſt er nicht un¬
bekannt geblieben. Dieſer Verwüſtung ſind wir entflohen
und flehen euch um einen Fleck an, wo wir die Götter
unſerer Heimath aufſtellen können, um ein ſicheres Ufer,
um Waſſer und Luft, die ein gemeinſames Gut aller
Sterblichen ſind! Es wird Italien nie gereuen, Troja in
ſeinen Schooß aufgenommen zu haben. Stammt doch
Dardanus von hier, und ruft uns hierher zurück. Auch
trieb uns ein beſonderes Gebot der Götter, dieſes Land
aufzuſuchen. Damit du aber erkenneſt, o König, daß wir
in Wahrheit diejenigen ſind, für welche wir uns aus¬
geben, ſo verehrt dir unſer Führer Aeneas die Geſchenke,

Schwab, das klaſſ. Alterthum. III. 23
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[353/0375] abſichtlich gekommen ſeyn! wiſſet, daß ihr an keiner ungaſtlichen Küſte gelandet habt. Verkennet in uns Latinern nicht das harmloſe Geſchlecht des Saturnus, das ohne Zwang und Geſetz Billigkeit übt, und den alten, frommen Gebräuchen des Gottes mit edler Freiheit folgt! Auch erinnere ich mich wohl noch (obgleich die Sage durch viele Jahrhunderte verdunkelt iſt), daß euer Ahn¬ herr Dardanus aus dieſer unſerer Gegend abſtammen ſolle.“ Ihm erwiederte Ilioneus, der von Allen zum Sprecher auserſehen war: „Kein Orkan hat uns an dein Geſtade genöthigt, erhabener Sohn des Faunus, kein Geſtirn hat uns in der Richtung des Weges ge¬ täuſcht! Mit freiem Willen erreichten wir dein Ufer, und bewußte Abſicht hat uns an daſſelbe geführt. Wir ſind aus einem herrlichen Reiche vertrieben worden, und der Erzvater unſeres Geſchlechtes iſt Jupiter ſelbſt. Auch unſer Fürſt und Anführer Aeneas, der Sohn der Göttin Venus, iſt Jupiters Enkel, und er ſelbſt iſt es, der uns in deinen Palaſt geſendet hat. Den Sturm, der Troja niedergeriſſen, kennt alle Welt; auch dir iſt er nicht un¬ bekannt geblieben. Dieſer Verwüſtung ſind wir entflohen und flehen euch um einen Fleck an, wo wir die Götter unſerer Heimath aufſtellen können, um ein ſicheres Ufer, um Waſſer und Luft, die ein gemeinſames Gut aller Sterblichen ſind! Es wird Italien nie gereuen, Troja in ſeinen Schooß aufgenommen zu haben. Stammt doch Dardanus von hier, und ruft uns hierher zurück. Auch trieb uns ein beſonderes Gebot der Götter, dieſes Land aufzuſuchen. Damit du aber erkenneſt, o König, daß wir in Wahrheit diejenigen ſind, für welche wir uns aus¬ geben, ſo verehrt dir unſer Führer Aeneas die Geſchenke, Schwab, das klaſſ. Alterthum. III. 23

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 353. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/375>, abgerufen am 25.04.2024.