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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

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die wir für dich mitgebracht haben, und die freilich nur
kleine Ueberbleibsel aus Troja's Brande sind: diesen
goldenen Pokal, aus welchem der Vater unseres Helden,
Anchises, sein Trankopfer zu verrichten pflegte; dieß Ge¬
wand des hohen Königs Priamus, das er trug, wenn
er dem zusammengerufenen Volke Recht sprach, endlich
seinen heiligen Kopfschmuck, seinen Scepter und andere
Gewande, ein kunstvolles Werk trojanischer Frauen¬
hände!"

Während Ilioneus sprach, hatte der alte König
Latinus die Augen unbeweglich zu Boden gesenkt, wie
ein tief Nachdenkender: er gab wenig auf die herrlichen
Geschenke Achtung, welche die Gesandten vor den Stu¬
fen seines Thrones ausbreiteten: wohl bewegte er in
seinem Herzen den Orakelspruch seines Vaters Faunus.
Auf einmal wurde ihm klar, dieser und kein Anderer sey
der verheißene Bräutigam seiner Tochter, dieser zur ge¬
meinschaftlichen Beherrschung des Reiches ausersehen;
aus ihm werde das Geschlecht aufsprießen, das bestimmt
sey, über die ganze Erde zu herrschen. Da erheiterte
sich seine Miene, er richtete sein Haupt auf und sprach:
"Mögen die Götter unser Werk und ihre Verheißung
segnen. Ich gewähre eure Wünsche, Trojaner, und eure
Geschenke nehme ich an. Nur soll Aeneas selbst zu mir
kommen, und sich vor dem Angesicht eines Freundes nicht
scheuen. Ihr aber überbringet ihm mein Anerbieten.
Mein ist eine einzige Tochter, die mir das Orakel mei¬
nes Vaters, verbunden mit andern Wunderzeichen, nicht
vergönnt, einem einheimischen Manne zu vermählen. Aus
dem Auslande soll mir, nach der Weissagung, der Gatte
meiner Tochter kommen."

die wir für dich mitgebracht haben, und die freilich nur
kleine Ueberbleibſel aus Troja's Brande ſind: dieſen
goldenen Pokal, aus welchem der Vater unſeres Helden,
Anchiſes, ſein Trankopfer zu verrichten pflegte; dieß Ge¬
wand des hohen Königs Priamus, das er trug, wenn
er dem zuſammengerufenen Volke Recht ſprach, endlich
ſeinen heiligen Kopfſchmuck, ſeinen Scepter und andere
Gewande, ein kunſtvolles Werk trojaniſcher Frauen¬
hände!“

Während Ilioneus ſprach, hatte der alte König
Latinus die Augen unbeweglich zu Boden geſenkt, wie
ein tief Nachdenkender: er gab wenig auf die herrlichen
Geſchenke Achtung, welche die Geſandten vor den Stu¬
fen ſeines Thrones ausbreiteten: wohl bewegte er in
ſeinem Herzen den Orakelſpruch ſeines Vaters Faunus.
Auf einmal wurde ihm klar, dieſer und kein Anderer ſey
der verheißene Bräutigam ſeiner Tochter, dieſer zur ge¬
meinſchaftlichen Beherrſchung des Reiches auserſehen;
aus ihm werde das Geſchlecht aufſprießen, das beſtimmt
ſey, über die ganze Erde zu herrſchen. Da erheiterte
ſich ſeine Miene, er richtete ſein Haupt auf und ſprach:
„Mögen die Götter unſer Werk und ihre Verheißung
ſegnen. Ich gewähre eure Wünſche, Trojaner, und eure
Geſchenke nehme ich an. Nur ſoll Aeneas ſelbſt zu mir
kommen, und ſich vor dem Angeſicht eines Freundes nicht
ſcheuen. Ihr aber überbringet ihm mein Anerbieten.
Mein iſt eine einzige Tochter, die mir das Orakel mei¬
nes Vaters, verbunden mit andern Wunderzeichen, nicht
vergönnt, einem einheimiſchen Manne zu vermählen. Aus
dem Auslande ſoll mir, nach der Weiſſagung, der Gatte
meiner Tochter kommen.“

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[354/0376] die wir für dich mitgebracht haben, und die freilich nur kleine Ueberbleibſel aus Troja's Brande ſind: dieſen goldenen Pokal, aus welchem der Vater unſeres Helden, Anchiſes, ſein Trankopfer zu verrichten pflegte; dieß Ge¬ wand des hohen Königs Priamus, das er trug, wenn er dem zuſammengerufenen Volke Recht ſprach, endlich ſeinen heiligen Kopfſchmuck, ſeinen Scepter und andere Gewande, ein kunſtvolles Werk trojaniſcher Frauen¬ hände!“ Während Ilioneus ſprach, hatte der alte König Latinus die Augen unbeweglich zu Boden geſenkt, wie ein tief Nachdenkender: er gab wenig auf die herrlichen Geſchenke Achtung, welche die Geſandten vor den Stu¬ fen ſeines Thrones ausbreiteten: wohl bewegte er in ſeinem Herzen den Orakelſpruch ſeines Vaters Faunus. Auf einmal wurde ihm klar, dieſer und kein Anderer ſey der verheißene Bräutigam ſeiner Tochter, dieſer zur ge¬ meinſchaftlichen Beherrſchung des Reiches auserſehen; aus ihm werde das Geſchlecht aufſprießen, das beſtimmt ſey, über die ganze Erde zu herrſchen. Da erheiterte ſich ſeine Miene, er richtete ſein Haupt auf und ſprach: „Mögen die Götter unſer Werk und ihre Verheißung ſegnen. Ich gewähre eure Wünſche, Trojaner, und eure Geſchenke nehme ich an. Nur ſoll Aeneas ſelbſt zu mir kommen, und ſich vor dem Angeſicht eines Freundes nicht ſcheuen. Ihr aber überbringet ihm mein Anerbieten. Mein iſt eine einzige Tochter, die mir das Orakel mei¬ nes Vaters, verbunden mit andern Wunderzeichen, nicht vergönnt, einem einheimiſchen Manne zu vermählen. Aus dem Auslande ſoll mir, nach der Weiſſagung, der Gatte meiner Tochter kommen.“

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 354. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/376>, abgerufen am 19.04.2024.