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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

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Hand des Aeneas zu retten und der Schlacht zu ent¬
führen. "Verlangst du nur Verzug seines Todes," sprach
Jupiter, "so mag es immerhin seyn! Wenn du aber
damit das Schicksal des ganzen Krieges zu ändern ver¬
meinst, so hegest du eine vergebliche Hoffnung." Wei¬
nend erwiederte Juno: "O daß dein Herz mir gewährte,
was dein Mund mir verweigert! Soll mein unschuldiger
Schützling so traurig endigen? Doch ich danke dir schon
für den Aufschub; vielleicht lenket dich deine Milde doch
noch auf gnädigeren Beschluß!"

Juno, von Gewölken umgürtet, ließ sich vom Sturm
durch die Lüfte tragen, und hatte bald das Lager der
Laurenter erreicht. Hier schuf sie aus einer hohlen Wolke
ein wesenloses Schattengebild, das an Gestalt dem Hel¬
den Aeneas täuschend ähnlich war, bekleidete es mit
einem Schatten von Panzer, Schild und Helm, der
herrlichen Rüstung des Göttersohnes nachgebildet, ver¬
lieh ihm den Schritt des Wandelnden, und, ohne seinen
Geist, den Hall seiner Stimme. So flog die Gestalt
dahin, wie ein Traumbild, das unsere Sinne trügt,
mischte sich unter die vordersten Reihen der Kämpfenden,
reizte den Turnus mit Geschoßen und forderte ihn zum
Kampfe heraus. Turnus eilte der Gestalt entgegen und
warf die Lanze nach ihr, da wandte jene den Tritt und
bot ihm den Rücken. Mit gezogenem Schwerte, unter
höhnischem Rufe, folgte Turnus, und merkte nicht, daß
er schon die Schlachtlinie verlassen hatte. Zunächst am
Strande lag eines der hetrurischen Schiffe, dorthin warf
sich das fliehende Bild des Aeneas, und schien sich za¬
gend in seine Schlupfwinkel zu verbergen. Nicht langsamer
folgte Turnus, sprang über die Brücke, und faßte Fuß

Hand des Aeneas zu retten und der Schlacht zu ent¬
führen. „Verlangſt du nur Verzug ſeines Todes,“ ſprach
Jupiter, „ſo mag es immerhin ſeyn! Wenn du aber
damit das Schickſal des ganzen Krieges zu ändern ver¬
meinſt, ſo hegeſt du eine vergebliche Hoffnung.“ Wei¬
nend erwiederte Juno: „O daß dein Herz mir gewährte,
was dein Mund mir verweigert! Soll mein unſchuldiger
Schützling ſo traurig endigen? Doch ich danke dir ſchon
für den Aufſchub; vielleicht lenket dich deine Milde doch
noch auf gnädigeren Beſchluß!“

Juno, von Gewölken umgürtet, ließ ſich vom Sturm
durch die Lüfte tragen, und hatte bald das Lager der
Laurenter erreicht. Hier ſchuf ſie aus einer hohlen Wolke
ein weſenloſes Schattengebild, das an Geſtalt dem Hel¬
den Aeneas täuſchend ähnlich war, bekleidete es mit
einem Schatten von Panzer, Schild und Helm, der
herrlichen Rüſtung des Götterſohnes nachgebildet, ver¬
lieh ihm den Schritt des Wandelnden, und, ohne ſeinen
Geiſt, den Hall ſeiner Stimme. So flog die Geſtalt
dahin, wie ein Traumbild, das unſere Sinne trügt,
miſchte ſich unter die vorderſten Reihen der Kämpfenden,
reizte den Turnus mit Geſchoßen und forderte ihn zum
Kampfe heraus. Turnus eilte der Geſtalt entgegen und
warf die Lanze nach ihr, da wandte jene den Tritt und
bot ihm den Rücken. Mit gezogenem Schwerte, unter
höhniſchem Rufe, folgte Turnus, und merkte nicht, daß
er ſchon die Schlachtlinie verlaſſen hatte. Zunächſt am
Strande lag eines der hetruriſchen Schiffe, dorthin warf
ſich das fliehende Bild des Aeneas, und ſchien ſich za¬
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folgte Turnus, ſprang über die Brücke, und faßte Fuß

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[395/0417] Hand des Aeneas zu retten und der Schlacht zu ent¬ führen. „Verlangſt du nur Verzug ſeines Todes,“ ſprach Jupiter, „ſo mag es immerhin ſeyn! Wenn du aber damit das Schickſal des ganzen Krieges zu ändern ver¬ meinſt, ſo hegeſt du eine vergebliche Hoffnung.“ Wei¬ nend erwiederte Juno: „O daß dein Herz mir gewährte, was dein Mund mir verweigert! Soll mein unſchuldiger Schützling ſo traurig endigen? Doch ich danke dir ſchon für den Aufſchub; vielleicht lenket dich deine Milde doch noch auf gnädigeren Beſchluß!“ Juno, von Gewölken umgürtet, ließ ſich vom Sturm durch die Lüfte tragen, und hatte bald das Lager der Laurenter erreicht. Hier ſchuf ſie aus einer hohlen Wolke ein weſenloſes Schattengebild, das an Geſtalt dem Hel¬ den Aeneas täuſchend ähnlich war, bekleidete es mit einem Schatten von Panzer, Schild und Helm, der herrlichen Rüſtung des Götterſohnes nachgebildet, ver¬ lieh ihm den Schritt des Wandelnden, und, ohne ſeinen Geiſt, den Hall ſeiner Stimme. So flog die Geſtalt dahin, wie ein Traumbild, das unſere Sinne trügt, miſchte ſich unter die vorderſten Reihen der Kämpfenden, reizte den Turnus mit Geſchoßen und forderte ihn zum Kampfe heraus. Turnus eilte der Geſtalt entgegen und warf die Lanze nach ihr, da wandte jene den Tritt und bot ihm den Rücken. Mit gezogenem Schwerte, unter höhniſchem Rufe, folgte Turnus, und merkte nicht, daß er ſchon die Schlachtlinie verlaſſen hatte. Zunächſt am Strande lag eines der hetruriſchen Schiffe, dorthin warf ſich das fliehende Bild des Aeneas, und ſchien ſich za¬ gend in ſeine Schlupfwinkel zu verbergen. Nicht langſamer folgte Turnus, ſprang über die Brücke, und faßte Fuß

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 395. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/417>, abgerufen am 25.04.2024.