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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

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übermenschlich groß, mit blutigen Augen, Schlangen in
den Haaren, Fackeln in der einen Hand, in der andern
aus Schlangen geflochtene Geißeln, verfolgten sie den
Muttermörder auf jedem Schritt und Tritt, und sandten
ihm ins Herz die nagenden Gewissensbisse und die quä¬
lendste Reue.

Sogleich nach der That jagten ihn die Eumeniden
fort vom Schauplatze derselben, und als ein wahnsinniger
Flüchtling verließ er die wieder gefundenen Schwestern,
das Vaterhaus Mycene und sein Vaterland. In dieser
Noth blieb ihm sein treuer Freund Pylades, den er in
einem Augenblicke der Besinnung mit seiner Schwester
Elektra verlobt hatte, redlich zur Seite, kehrte nicht in
seine Heimath Phocis und zu seinem Vater Strophius
zurück, sondern theilte alle Wanderungen in der Irre
mit seinem wahnsinnig gewordenen Freunde. Außer die¬
ser treuen Seele hatte Orestes keinen menschlichen Be¬
schützer in seinem Elend. Aber der Gott, der ihm die
Rache befohlen hatte, Apollo, war bald sichtbar, bald
unsichtbar an seiner Seite und wehrte die ungestüm
nachdringenden Erinnyen wenigstens vom Leibe des Ver¬
folgten ab. Auch sein Geist wurde ruhiger, wenn der
Gott in der Nähe war.

So waren die Flüchtlinge auf ihren langen Irr¬
fahrten endlich ins Gebiet von Delphi gekommen, und
Orestes hatte im Tempel des Apollo selbst, dessen Zutritt
den Erinnyen verwehrt war, eine Freistätte für den Au¬
genblick gefunden. Der Gott stand mitleidig zu seiner
Seite, wie er auf dem Aestrich des Heiligthums ausge¬
streckt, von Müdigkeit und Gewissensangst abgemattet, ge¬
stützt auf seinen Freund Pylades, ausruhte, und sprach

übermenſchlich groß, mit blutigen Augen, Schlangen in
den Haaren, Fackeln in der einen Hand, in der andern
aus Schlangen geflochtene Geißeln, verfolgten ſie den
Muttermörder auf jedem Schritt und Tritt, und ſandten
ihm ins Herz die nagenden Gewiſſensbiſſe und die quä¬
lendſte Reue.

Sogleich nach der That jagten ihn die Eumeniden
fort vom Schauplatze derſelben, und als ein wahnſinniger
Flüchtling verließ er die wieder gefundenen Schweſtern,
das Vaterhaus Mycene und ſein Vaterland. In dieſer
Noth blieb ihm ſein treuer Freund Pylades, den er in
einem Augenblicke der Beſinnung mit ſeiner Schweſter
Elektra verlobt hatte, redlich zur Seite, kehrte nicht in
ſeine Heimath Phocis und zu ſeinem Vater Strophius
zurück, ſondern theilte alle Wanderungen in der Irre
mit ſeinem wahnſinnig gewordenen Freunde. Außer die¬
ſer treuen Seele hatte Oreſtes keinen menſchlichen Be¬
ſchützer in ſeinem Elend. Aber der Gott, der ihm die
Rache befohlen hatte, Apollo, war bald ſichtbar, bald
unſichtbar an ſeiner Seite und wehrte die ungeſtüm
nachdringenden Erinnyen wenigſtens vom Leibe des Ver¬
folgten ab. Auch ſein Geiſt wurde ruhiger, wenn der
Gott in der Nähe war.

So waren die Flüchtlinge auf ihren langen Irr¬
fahrten endlich ins Gebiet von Delphi gekommen, und
Oreſtes hatte im Tempel des Apollo ſelbſt, deſſen Zutritt
den Erinnyen verwehrt war, eine Freiſtätte für den Au¬
genblick gefunden. Der Gott ſtand mitleidig zu ſeiner
Seite, wie er auf dem Aeſtrich des Heiligthums ausge¬
ſtreckt, von Müdigkeit und Gewiſſensangſt abgemattet, ge¬
ſtützt auf ſeinen Freund Pylades, ausruhte, und ſprach

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[30/0052] übermenſchlich groß, mit blutigen Augen, Schlangen in den Haaren, Fackeln in der einen Hand, in der andern aus Schlangen geflochtene Geißeln, verfolgten ſie den Muttermörder auf jedem Schritt und Tritt, und ſandten ihm ins Herz die nagenden Gewiſſensbiſſe und die quä¬ lendſte Reue. Sogleich nach der That jagten ihn die Eumeniden fort vom Schauplatze derſelben, und als ein wahnſinniger Flüchtling verließ er die wieder gefundenen Schweſtern, das Vaterhaus Mycene und ſein Vaterland. In dieſer Noth blieb ihm ſein treuer Freund Pylades, den er in einem Augenblicke der Beſinnung mit ſeiner Schweſter Elektra verlobt hatte, redlich zur Seite, kehrte nicht in ſeine Heimath Phocis und zu ſeinem Vater Strophius zurück, ſondern theilte alle Wanderungen in der Irre mit ſeinem wahnſinnig gewordenen Freunde. Außer die¬ ſer treuen Seele hatte Oreſtes keinen menſchlichen Be¬ ſchützer in ſeinem Elend. Aber der Gott, der ihm die Rache befohlen hatte, Apollo, war bald ſichtbar, bald unſichtbar an ſeiner Seite und wehrte die ungeſtüm nachdringenden Erinnyen wenigſtens vom Leibe des Ver¬ folgten ab. Auch ſein Geiſt wurde ruhiger, wenn der Gott in der Nähe war. So waren die Flüchtlinge auf ihren langen Irr¬ fahrten endlich ins Gebiet von Delphi gekommen, und Oreſtes hatte im Tempel des Apollo ſelbſt, deſſen Zutritt den Erinnyen verwehrt war, eine Freiſtätte für den Au¬ genblick gefunden. Der Gott ſtand mitleidig zu ſeiner Seite, wie er auf dem Aeſtrich des Heiligthums ausge¬ ſtreckt, von Müdigkeit und Gewiſſensangſt abgemattet, ge¬ ſtützt auf ſeinen Freund Pylades, ausruhte, und ſprach

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/52>, abgerufen am 25.04.2024.