nährenden Flüssigkeit, des Zutritts von Sauerstoff bedürfen, und Kohlensäure muss ausgehaucht werden können oder um- gekehrt, so müssen die Organismen, in denen sich keine Cirkulation der respirirenden Flüssigkeit, oder wenigstens keine hinlängliche Cirkulation ausbildet, sich so entwickeln, dass sie der atmosphärischen Luft eine möglichst grosse Oberfläche darbieten. In dieser Lage befinden sich die Pflanzen, zu deren Wachsthum die Berührung der einzelnen Zellen mit dem umgebenden Medium auf ähnliche Weise wenn auch nicht in demselben Masse, nothwendig ist, wie bei einem Krystallbaume, und hier fügen sich auch wirk- lich die Zellen zu einem Ganzen zusammen, welches mit einem Krystallbaume, in seiner Gesammtform viele Aehn- lichkeit hat. Bei den Thieren aber, wo die Berührung der einzelnen Zellen mit dem umgebenden Medium durch die Cirkulation überflüssig gemacht wird, können mehr kom- pakte Formen entstehen, selbst wenn die Gesetze, wonach sich die Zellen aneinanderlegen, wesentlich dieselben sind.
Nach alle dem scheint die Ansicht, dass die Organis- men nichts sind als die Formen, unter denen imbibitions- fähige Substanzen krystallisiren mit den wichtigsten Er- scheinungen des organischen Lebens vereinbar, und in so fern als eine mögliche Hypothese, als ein Versuch zur Erklärung dieser Erscheinungen zulässig. Sie enthält sehr viel Ungewisses und Paradoxes, aber ich habe sie desshalb ausführlich entwickelt, weil sie als Leitfaden für neue Un- tersuchungen dienen kann. Denn selbst wenn man im Prinzip keinen Zusammenhang zwischen Krystallisation und Wachsthum der Organismen annimmt, hat diese An- sicht den Vortheil, dass man sich eine bestimmte Vor- stellung von den organischen Prozessen machen kann, was immer nothwendig ist, wenn man planmässig neue Versuche anstellen, d. h. eine mit den bekannten Erschei- nungen harmonirende Vorstellungsweise durch Hervorru- fung neuer Erscheinungen prüfen will.
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nährenden Flüssigkeit, des Zutritts von Sauerstoff bedürfen, und Kohlensäure muſs ausgehaucht werden können oder um- gekehrt, so müssen die Organismen, in denen sich keine Cirkulation der respirirenden Flüssigkeit, oder wenigstens keine hinlängliche Cirkulation ausbildet, sich so entwickeln, daſs sie der atmosphärischen Luft eine möglichst groſse Oberfläche darbieten. In dieser Lage befinden sich die Pflanzen, zu deren Wachsthum die Berührung der einzelnen Zellen mit dem umgebenden Medium auf ähnliche Weise wenn auch nicht in demselben Maſse, nothwendig ist, wie bei einem Krystallbaume, und hier fügen sich auch wirk- lich die Zellen zu einem Ganzen zusammen, welches mit einem Krystallbaume, in seiner Gesammtform viele Aehn- lichkeit hat. Bei den Thieren aber, wo die Berührung der einzelnen Zellen mit dem umgebenden Medium durch die Cirkulation überflüssig gemacht wird, können mehr kom- pakte Formen entstehen, selbst wenn die Gesetze, wonach sich die Zellen aneinanderlegen, wesentlich dieselben sind.
Nach alle dem scheint die Ansicht, daſs die Organis- men nichts sind als die Formen, unter denen imbibitions- fähige Substanzen krystallisiren mit den wichtigsten Er- scheinungen des organischen Lebens vereinbar, und in so fern als eine mögliche Hypothese, als ein Versuch zur Erklärung dieser Erscheinungen zuläſsig. Sie enthält sehr viel Ungewisses und Paradoxes, aber ich habe sie deſshalb ausführlich entwickelt, weil sie als Leitfaden für neue Un- tersuchungen dienen kann. Denn selbst wenn man im Prinzip keinen Zusammenhang zwischen Krystallisation und Wachsthum der Organismen annimmt, hat diese An- sicht den Vortheil, daſs man sich eine bestimmte Vor- stellung von den organischen Prozessen machen kann, was immer nothwendig ist, wenn man planmäſsig neue Versuche anstellen, d. h. eine mit den bekannten Erschei- nungen harmonirende Vorstellungsweise durch Hervorru- fung neuer Erscheinungen prüfen will.
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nährenden Flüssigkeit, des Zutritts von Sauerstoff bedürfen,
und Kohlensäure muſs ausgehaucht werden können oder um-
gekehrt, so müssen die Organismen, in denen sich keine
Cirkulation der respirirenden Flüssigkeit, oder wenigstens
keine hinlängliche Cirkulation ausbildet, sich so entwickeln,
daſs sie der atmosphärischen Luft eine möglichst groſse
Oberfläche darbieten. In dieser Lage befinden sich die
Pflanzen, zu deren Wachsthum die Berührung der einzelnen
Zellen mit dem umgebenden Medium auf ähnliche Weise
wenn auch nicht in demselben Maſse, nothwendig ist, wie
bei einem Krystallbaume, und hier fügen sich auch wirk-
lich die Zellen zu einem Ganzen zusammen, welches mit
einem Krystallbaume, in seiner Gesammtform viele Aehn-
lichkeit hat. Bei den Thieren aber, wo die Berührung der
einzelnen Zellen mit dem umgebenden Medium durch die
Cirkulation überflüssig gemacht wird, können mehr kom-
pakte Formen entstehen, selbst wenn die Gesetze, wonach
sich die Zellen aneinanderlegen, wesentlich dieselben sind.
Nach alle dem scheint die Ansicht, daſs die Organis-
men nichts sind als die Formen, unter denen imbibitions-
fähige Substanzen krystallisiren mit den wichtigsten Er-
scheinungen des organischen Lebens vereinbar, und in so
fern als eine mögliche Hypothese, als ein Versuch zur
Erklärung dieser Erscheinungen zuläſsig. Sie enthält sehr
viel Ungewisses und Paradoxes, aber ich habe sie deſshalb
ausführlich entwickelt, weil sie als Leitfaden für neue Un-
tersuchungen dienen kann. Denn selbst wenn man im
Prinzip keinen Zusammenhang zwischen Krystallisation
und Wachsthum der Organismen annimmt, hat diese An-
sicht den Vortheil, daſs man sich eine bestimmte Vor-
stellung von den organischen Prozessen machen kann,
was immer nothwendig ist, wenn man planmäſsig neue
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nungen harmonirende Vorstellungsweise durch Hervorru-
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Schwann, Theodor: Mikroskopische Untersuchungen über die Uebereinstimmung in der Struktur und dem Wachsthum der Thiere und Pflanzen. Berlin, 1839, S. 257. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwann_mikroskopische_1839/281>, abgerufen am 29.03.2024.
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