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Siebold, Carl Theodor Ernst von: Die Süsswasserfische von Mitteleuropa. Leipzig, 1863.

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Familie: Cyprinoidei.
Entwicklung und Anzahl besitzen, bildet den Hauptstamm unserer Fischfauna;
Linne (Nr. 2: pag. 525) fasste alle hiehergehörigen Fische unter dem einen
Gattungs-Namen Cyprinus zusammen; der Reichthum an Arten erwies sich
aber bei dieser Gattung als so gross, dass man sich nur schwer zurecht fin-
den konnte. Es wurde diese Schwierigkeit von Cuvier1) dadurch beseitigt,
dass derselbe die Gattung in mehrere Untergattungen zerspaltete; aber auch
Cuvier's Eintheilung der Cyprinen reichte noch nicht aus und liess die Auf-
stellung noch mancher guten Gattung zu, wie wir sie von Bonaparte2) und
Agassiz3) erhielten, bis endlich von Heckel4) die Familie der Cyprinen unter
Berücksichtigung der Form, Zahl und Anordnung der Schlundzähne, auf
welche bereits Agassiz hingewiesen hatte, in erschöpfender Weise nach natür-
lichen Gruppen und Gattungen abgetheilt wurde.

Die Schlundzähne der Cyprinoiden bieten für die Erforschung der Ent-
wicklungsgeschichte der Zähne ein höchst interessantes Material, indem die-
selben alljährlich gewechselt und durch neuen Nachwuchs ersetzt werden.
Dieser Nachwuchs von Ersatzzähnen geht in der den Boden der Rachenhöhle
auskleidenden Schleimhaut dicht vor den alten Zähnen vor sich. Die hier
verborgenen Zahnsäckchen erzeugen aber, wie es scheint, nur die aus Zahn-
bein und Zahnschmelz bestehende Krone; die Knochensubstanz, welche als
Zahnwurzel mit den Schlundknochen, den Trägern der Schlundzähne unmit-
telbar verwachsen ist, bildet sich aus den letzteren ebenfalls neu hervor,
nachdem der alte Zahn sammt seiner knöchernen Wurzel durch Abfallen Platz
gemacht hat. Dieser Zahnwechsel findet immer zur Laichzeit statt, um welche
Zeit die Fische, nachdem sie sich vorher gut gemästet, nicht zu fressen pfle-
gen. Untersucht man die Schlundknochen der Cyprinoiden vor Beendigung
ihres Fortpflanzungsgeschäftes, so kann man, mögen ihre Zahnkronen Kau-
flächen besitzen oder nicht, die Zahnkronen-Scherben der Ersatzzähne inner-
halb der Zahnsäckchen auf den verschiedensten Stufen der Entwicklung an-
treffen5). Bei einem solchen steten Nachwachsen von Ersatzzähnen wird man
nicht von in hohem Alter abgeschliffenen Druckzähnen (Dentes contusorii) ge-
wisser Cyprinoiden reden können, wie dies Heckel (Nr. 11 c: pag. 1006) gethan
hat, da sich solche Druckzähne alljährlich vollständig abschleifen.


1) Vergl. dessen: Regne animal. Paris, 1829. Tom. II. pag. 270 etc.
2) S. dessen: Iconografia della fauna italica. Roma, 1832--41.
3) S. Agassiz Nr. 7: pag. 33 und Nr. 8: pag. 73.
4) Vergl. dessen: Abbildungen und Beschreibungen der Fische Syriens nebst einer
neuen Classifikation und Karakteristik sämmtlicher Gattungen der Cyprinen. Stuttgart,
1843. Es ist diese Abhandlung aus dem I. Bande und 2. Theile von Russegger's Reisen be-
sonders abgedruckt. In dem beigegebenen Atlas hat Heckel auf Tafel I die Schlundzähne
der meisten unserer Karpfen-Gattungen nach Form, Zahl und Stellung sehr schön abgebildet.
5) Vergl. Jurine: Sur les dents et la mastication des poissons appelles Cyprins, in den
Mem. de la soc. de phys. et d'hist. nat. de Geneve. T. I. 1821. pag. 19.

Familie: Cyprinoidei.
Entwicklung und Anzahl besitzen, bildet den Hauptstamm unserer Fischfauna;
Linné (Nr. 2: pag. 525) fasste alle hiehergehörigen Fische unter dem einen
Gattungs-Namen Cyprinus zusammen; der Reichthum an Arten erwies sich
aber bei dieser Gattung als so gross, dass man sich nur schwer zurecht fin-
den konnte. Es wurde diese Schwierigkeit von Cuvier1) dadurch beseitigt,
dass derselbe die Gattung in mehrere Untergattungen zerspaltete; aber auch
Cuvier’s Eintheilung der Cyprinen reichte noch nicht aus und liess die Auf-
stellung noch mancher guten Gattung zu, wie wir sie von Bonaparte2) und
Agassiz3) erhielten, bis endlich von Heckel4) die Familie der Cyprinen unter
Berücksichtigung der Form, Zahl und Anordnung der Schlundzähne, auf
welche bereits Agassiz hingewiesen hatte, in erschöpfender Weise nach natür-
lichen Gruppen und Gattungen abgetheilt wurde.

Die Schlundzähne der Cyprinoiden bieten für die Erforschung der Ent-
wicklungsgeschichte der Zähne ein höchst interessantes Material, indem die-
selben alljährlich gewechselt und durch neuen Nachwuchs ersetzt werden.
Dieser Nachwuchs von Ersatzzähnen geht in der den Boden der Rachenhöhle
auskleidenden Schleimhaut dicht vor den alten Zähnen vor sich. Die hier
verborgenen Zahnsäckchen erzeugen aber, wie es scheint, nur die aus Zahn-
bein und Zahnschmelz bestehende Krone; die Knochensubstanz, welche als
Zahnwurzel mit den Schlundknochen, den Trägern der Schlundzähne unmit-
telbar verwachsen ist, bildet sich aus den letzteren ebenfalls neu hervor,
nachdem der alte Zahn sammt seiner knöchernen Wurzel durch Abfallen Platz
gemacht hat. Dieser Zahnwechsel findet immer zur Laichzeit statt, um welche
Zeit die Fische, nachdem sie sich vorher gut gemästet, nicht zu fressen pfle-
gen. Untersucht man die Schlundknochen der Cyprinoiden vor Beendigung
ihres Fortpflanzungsgeschäftes, so kann man, mögen ihre Zahnkronen Kau-
flächen besitzen oder nicht, die Zahnkronen-Scherben der Ersatzzähne inner-
halb der Zahnsäckchen auf den verschiedensten Stufen der Entwicklung an-
treffen5). Bei einem solchen steten Nachwachsen von Ersatzzähnen wird man
nicht von in hohem Alter abgeschliffenen Druckzähnen (Dentes contusorii) ge-
wisser Cyprinoiden reden können, wie dies Heckel (Nr. 11 c: pag. 1006) gethan
hat, da sich solche Druckzähne alljährlich vollständig abschleifen.


1) Vergl. dessen: Règne animal. Paris, 1829. Tom. II. pag. 270 etc.
2) S. dessen: Iconografia della fauna italica. Roma, 1832—41.
3) S. Agassiz Nr. 7: pag. 33 und Nr. 8: pag. 73.
4) Vergl. dessen: Abbildungen und Beschreibungen der Fische Syriens nebst einer
neuen Classifikation und Karakteristik sämmtlicher Gattungen der Cyprinen. Stuttgart,
1843. Es ist diese Abhandlung aus dem I. Bande und 2. Theile von Russegger’s Reisen be-
sonders abgedruckt. In dem beigegebenen Atlas hat Heckel auf Tafel I die Schlundzähne
der meisten unserer Karpfen-Gattungen nach Form, Zahl und Stellung sehr schön abgebildet.
5) Vergl. Jurine: Sur les dents et la mastication des poissons appellés Cyprins, in den
Mém. de la soc. de phys. et d’hist. nat. de Genève. T. I. 1821. pag. 19.
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[82/0095] Familie: Cyprinoidei. Entwicklung und Anzahl besitzen, bildet den Hauptstamm unserer Fischfauna; Linné (Nr. 2: pag. 525) fasste alle hiehergehörigen Fische unter dem einen Gattungs-Namen Cyprinus zusammen; der Reichthum an Arten erwies sich aber bei dieser Gattung als so gross, dass man sich nur schwer zurecht fin- den konnte. Es wurde diese Schwierigkeit von Cuvier 1) dadurch beseitigt, dass derselbe die Gattung in mehrere Untergattungen zerspaltete; aber auch Cuvier’s Eintheilung der Cyprinen reichte noch nicht aus und liess die Auf- stellung noch mancher guten Gattung zu, wie wir sie von Bonaparte 2) und Agassiz 3) erhielten, bis endlich von Heckel 4) die Familie der Cyprinen unter Berücksichtigung der Form, Zahl und Anordnung der Schlundzähne, auf welche bereits Agassiz hingewiesen hatte, in erschöpfender Weise nach natür- lichen Gruppen und Gattungen abgetheilt wurde. Die Schlundzähne der Cyprinoiden bieten für die Erforschung der Ent- wicklungsgeschichte der Zähne ein höchst interessantes Material, indem die- selben alljährlich gewechselt und durch neuen Nachwuchs ersetzt werden. Dieser Nachwuchs von Ersatzzähnen geht in der den Boden der Rachenhöhle auskleidenden Schleimhaut dicht vor den alten Zähnen vor sich. Die hier verborgenen Zahnsäckchen erzeugen aber, wie es scheint, nur die aus Zahn- bein und Zahnschmelz bestehende Krone; die Knochensubstanz, welche als Zahnwurzel mit den Schlundknochen, den Trägern der Schlundzähne unmit- telbar verwachsen ist, bildet sich aus den letzteren ebenfalls neu hervor, nachdem der alte Zahn sammt seiner knöchernen Wurzel durch Abfallen Platz gemacht hat. Dieser Zahnwechsel findet immer zur Laichzeit statt, um welche Zeit die Fische, nachdem sie sich vorher gut gemästet, nicht zu fressen pfle- gen. Untersucht man die Schlundknochen der Cyprinoiden vor Beendigung ihres Fortpflanzungsgeschäftes, so kann man, mögen ihre Zahnkronen Kau- flächen besitzen oder nicht, die Zahnkronen-Scherben der Ersatzzähne inner- halb der Zahnsäckchen auf den verschiedensten Stufen der Entwicklung an- treffen 5). Bei einem solchen steten Nachwachsen von Ersatzzähnen wird man nicht von in hohem Alter abgeschliffenen Druckzähnen (Dentes contusorii) ge- wisser Cyprinoiden reden können, wie dies Heckel (Nr. 11 c: pag. 1006) gethan hat, da sich solche Druckzähne alljährlich vollständig abschleifen. 1) Vergl. dessen: Règne animal. Paris, 1829. Tom. II. pag. 270 etc. 2) S. dessen: Iconografia della fauna italica. Roma, 1832—41. 3) S. Agassiz Nr. 7: pag. 33 und Nr. 8: pag. 73. 4) Vergl. dessen: Abbildungen und Beschreibungen der Fische Syriens nebst einer neuen Classifikation und Karakteristik sämmtlicher Gattungen der Cyprinen. Stuttgart, 1843. Es ist diese Abhandlung aus dem I. Bande und 2. Theile von Russegger’s Reisen be- sonders abgedruckt. In dem beigegebenen Atlas hat Heckel auf Tafel I die Schlundzähne der meisten unserer Karpfen-Gattungen nach Form, Zahl und Stellung sehr schön abgebildet. 5) Vergl. Jurine: Sur les dents et la mastication des poissons appellés Cyprins, in den Mém. de la soc. de phys. et d’hist. nat. de Genève. T. I. 1821. pag. 19.

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Zitationshilfe: Siebold, Carl Theodor Ernst von: Die Süsswasserfische von Mitteleuropa. Leipzig, 1863, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/siebold_suesswasserfische_1863/95>, abgerufen am 19.04.2024.