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Siegmeyer, Johann Gottlieb: Theorie der Tonsetzkunst. Berlin, 1822.

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Zweites Kapitel.
Vom Style oder von der Schreibart der verschiedenen Musikstücke.

Die Kunst, die Gedanken in der Musik durch Noten auszudrücken gleicht der in der
Sprache sich durch Worte verständlich zu machen. Von beiden verlangt man eine gram-
matikalische Richtigkeit. In der Sprache nennt man sie Construction; in der Musik
wird sie reiner Satz genannt und immer unter den Namen Styl mitbegriffen, was
aber ganz falsch ist, denn die wahre Construction der Musik ist blos die Art und Weise,
einzelne Gedanken durch rhythmische Formen und Töne auszudrücken. Der Styl aber
ist 1) eine gewiße Uebereinstimmung dieser Formen, durch welche sich fast jeder Ton-
künstler von dem andern in etwas unterscheidet. 2) der Karakter einer jeden
Gattung von Musik
, als der Kirchen, Opern, Concert Musit etc.

Eine Abhandlung über die Schreibart eines jeden uns als groß bekannten Compo-
nisten hier beizubringen, wird man mir gern erlaßen, wenn man bedenkt wie viel dazu
gehört, die Eigenthümlichkeiten nur eines einzigen Componisten mit Worten zu beschrei-
ben, und daß die beste Art ihre Schreibart zu benutzen, in dem Studium ihrer Werke
selbst
, besteht. Was aber den Styl der verschiedenen Musikstücke in Absicht auf mate-
rielle Behandlung betrifft, so läßt sich schon eher etwas bestimmtes darüber sagen.

Alle Tonstücke, sie mögen Namen haben wie sie wollen, gehören ihrem Zwecke oder
Karacter nach entweder

1) zur Kirchen
2) - Opern
3) - Concert
4) - Kammer
5) - Militair
6) - Tanz
Musik.

Jede dieser Musikarten hebt sich nun durch einen besondern Karakter hervor, der
sich theils auf die rhythmischen Formen, theils auf die Melodien; die wir jeder dieser
Gattung zu geben gewohnt sind, gründet. Es ist hier die Gelegenheit zu bemerken, daß
die verschiedene Schreibart eine Folge der Cultur und der Freiheit der Völker ist, denn
wenn sie Folge unsers Gefühls wäre, was in seiner Unverdorbenheit sich stets gleich
bleibt, so müßten die Völker des Südens nicht von den des Morgenlandes in Hinsicht
des Ausdrucks ihrer Leidenschaften abweichen. Die orientalischen Völker sind gewohnt
ihre lustigsten Lieder und Tänze in den Moll-Tonarten und in einer Art rhythmischen
Form, unserer Kirchen-Musik ähnlich, zu singen und zu spielen und ihren Eindruck mit
den lärmenden Instrumenten der Janitscharen Musik etc. zu unterstützen. Die Völker

J i
Zweites Kapitel.
Vom Style oder von der Schreibart der verſchiedenen Muſikſtuͤcke.

Die Kunſt, die Gedanken in der Muſik durch Noten auszudruͤcken gleicht der in der
Sprache ſich durch Worte verſtaͤndlich zu machen. Von beiden verlangt man eine gram-
matikaliſche Richtigkeit. In der Sprache nennt man ſie Conſtruction; in der Muſik
wird ſie reiner Satz genannt und immer unter den Namen Styl mitbegriffen, was
aber ganz falſch iſt, denn die wahre Conſtruction der Muſik iſt blos die Art und Weiſe,
einzelne Gedanken durch rhythmiſche Formen und Toͤne auszudruͤcken. Der Styl aber
iſt 1) eine gewiße Uebereinſtimmung dieſer Formen, durch welche ſich faſt jeder Ton-
kuͤnſtler von dem andern in etwas unterſcheidet. 2) der Karakter einer jeden
Gattung von Muſik
, als der Kirchen, Opern, Concert Muſit ꝛc.

Eine Abhandlung uͤber die Schreibart eines jeden uns als groß bekannten Compo-
niſten hier beizubringen, wird man mir gern erlaßen, wenn man bedenkt wie viel dazu
gehoͤrt, die Eigenthuͤmlichkeiten nur eines einzigen Componiſten mit Worten zu beſchrei-
ben, und daß die beſte Art ihre Schreibart zu benutzen, in dem Studium ihrer Werke
ſelbſt
, beſteht. Was aber den Styl der verſchiedenen Muſikſtuͤcke in Abſicht auf mate-
rielle Behandlung betrifft, ſo laͤßt ſich ſchon eher etwas beſtimmtes daruͤber ſagen.

Alle Tonſtuͤcke, ſie moͤgen Namen haben wie ſie wollen, gehoͤren ihrem Zwecke oder
Karacter nach entweder

1) zur Kirchen
2) ‒ Opern
3) ‒ Concert
4) ‒ Kammer
5) ‒ Militair
6) ‒ Tanz
Muſik.

Jede dieſer Muſikarten hebt ſich nun durch einen beſondern Karakter hervor, der
ſich theils auf die rhythmiſchen Formen, theils auf die Melodien; die wir jeder dieſer
Gattung zu geben gewohnt ſind, gruͤndet. Es iſt hier die Gelegenheit zu bemerken, daß
die verſchiedene Schreibart eine Folge der Cultur und der Freiheit der Voͤlker iſt, denn
wenn ſie Folge unſers Gefuͤhls waͤre, was in ſeiner Unverdorbenheit ſich ſtets gleich
bleibt, ſo muͤßten die Voͤlker des Suͤdens nicht von den des Morgenlandes in Hinſicht
des Ausdrucks ihrer Leidenſchaften abweichen. Die orientaliſchen Voͤlker ſind gewohnt
ihre luſtigſten Lieder und Taͤnze in den Moll-Tonarten und in einer Art rhythmiſchen
Form, unſerer Kirchen-Muſik aͤhnlich, zu ſingen und zu ſpielen und ihren Eindruck mit
den laͤrmenden Inſtrumenten der Janitſcharen Muſik ꝛc. zu unterſtuͤtzen. Die Voͤlker

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[249/0267] Zweites Kapitel. Vom Style oder von der Schreibart der verſchiedenen Muſikſtuͤcke. Die Kunſt, die Gedanken in der Muſik durch Noten auszudruͤcken gleicht der in der Sprache ſich durch Worte verſtaͤndlich zu machen. Von beiden verlangt man eine gram- matikaliſche Richtigkeit. In der Sprache nennt man ſie Conſtruction; in der Muſik wird ſie reiner Satz genannt und immer unter den Namen Styl mitbegriffen, was aber ganz falſch iſt, denn die wahre Conſtruction der Muſik iſt blos die Art und Weiſe, einzelne Gedanken durch rhythmiſche Formen und Toͤne auszudruͤcken. Der Styl aber iſt 1) eine gewiße Uebereinſtimmung dieſer Formen, durch welche ſich faſt jeder Ton- kuͤnſtler von dem andern in etwas unterſcheidet. 2) der Karakter einer jeden Gattung von Muſik, als der Kirchen, Opern, Concert Muſit ꝛc. Eine Abhandlung uͤber die Schreibart eines jeden uns als groß bekannten Compo- niſten hier beizubringen, wird man mir gern erlaßen, wenn man bedenkt wie viel dazu gehoͤrt, die Eigenthuͤmlichkeiten nur eines einzigen Componiſten mit Worten zu beſchrei- ben, und daß die beſte Art ihre Schreibart zu benutzen, in dem Studium ihrer Werke ſelbſt, beſteht. Was aber den Styl der verſchiedenen Muſikſtuͤcke in Abſicht auf mate- rielle Behandlung betrifft, ſo laͤßt ſich ſchon eher etwas beſtimmtes daruͤber ſagen. Alle Tonſtuͤcke, ſie moͤgen Namen haben wie ſie wollen, gehoͤren ihrem Zwecke oder Karacter nach entweder 1) zur Kirchen 2) ‒ Opern 3) ‒ Concert 4) ‒ Kammer 5) ‒ Militair 6) ‒ Tanz Muſik. Jede dieſer Muſikarten hebt ſich nun durch einen beſondern Karakter hervor, der ſich theils auf die rhythmiſchen Formen, theils auf die Melodien; die wir jeder dieſer Gattung zu geben gewohnt ſind, gruͤndet. Es iſt hier die Gelegenheit zu bemerken, daß die verſchiedene Schreibart eine Folge der Cultur und der Freiheit der Voͤlker iſt, denn wenn ſie Folge unſers Gefuͤhls waͤre, was in ſeiner Unverdorbenheit ſich ſtets gleich bleibt, ſo muͤßten die Voͤlker des Suͤdens nicht von den des Morgenlandes in Hinſicht des Ausdrucks ihrer Leidenſchaften abweichen. Die orientaliſchen Voͤlker ſind gewohnt ihre luſtigſten Lieder und Taͤnze in den Moll-Tonarten und in einer Art rhythmiſchen Form, unſerer Kirchen-Muſik aͤhnlich, zu ſingen und zu ſpielen und ihren Eindruck mit den laͤrmenden Inſtrumenten der Janitſcharen Muſik ꝛc. zu unterſtuͤtzen. Die Voͤlker J i

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Zitationshilfe: Siegmeyer, Johann Gottlieb: Theorie der Tonsetzkunst. Berlin, 1822, S. 249. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/siegmeyer_tonsetzkunst_1822/267>, abgerufen am 28.03.2024.