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Siegmeyer, Johann Gottlieb: Theorie der Tonsetzkunst. Berlin, 1822.

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Siebentes Kapitel.
Von der Stimmenführung.

Bei der Stimmenführung ist es Hauptsache: daß jede Stimme besonders den Aus-
druck und Zweck des melodischen Gedankens unterstütze und erheben helfe, wie es ins-
besondere bei Orchester und mehrstimmigen Sachen erforderlich ist. Um eine Klarheit
und Richtigkeit bei der Stimmenführung zu erreichen, ist es nöthig, den melodischen
Haupt Gedanken in mehrern Stimmen und andern Tönen; jedoch in der nämlichen
Sphäre der Harmonie, worinnen sich die Modulation aufhält, so wie in anderer rhyth-
mischer Eintheilung, nachzuahmen. Oftmals werden sogar zwei oder drei Stim-
men contrapunctisch der melodischen Haupt-Idee entgegengefetzt, wodurch der ganze
Satz eine größere Mannigfaltigkeit und Schönheit erhält. Die Sphäre der Harmonie
muß aber genau beobachtet werden, sonst bilden die einzelnen Stimmen im Ganzen ei-
nen falschen Ausdruck.

Um diese Ansicht etwas deutlicher zu machen, wie sich die Stimmen an einander
knüpfen, vergrößern und verkleinern, ohne aus den Harmonieschritten heraus zu gehen,
will ich hier nur ein Beispiel von Mozart; dessen Werke davon so voll sind, anführen:
siehe Beilage.

Es ist darinnen kein einzelner Gedanke, keine Lücke anzutreffen und alle Instru-
mente bezwecken den Effeckt des Haupt Gedankens.

Ich glaube aber wohl nicht erinnern zu dürfen, daß nicht eine jede Stimme eine
besondere Melodie durchführen kann, weil dadurch eine Verwirrung und Ueberladung
der Haupt Idee eintreten müßte, und sich oft durchgehende Töne mit Wechsel
Tönen
berühren, einen Querstand bilden oder ganz unharmonisch gegen einander ver-
halten würden. Vorzüglich verdient angemerkt zu werden, daß die Bäße eine kräftigere
und im Gange eine ganz andre Melodie führen müssen als die Mittelstimmen, wenn
letztere nicht aus besonderer Absicht hervorgehoben werden sollen, denn außerdem die-
nen sie mehr zur Begleitung und Unterstützung der Haupt Melodie.

Der Baß und die höchste Stimme müssen als Extreme (die in der Natur immer
einander berühren) die Modulation bestimmen; es wäre denn, daß eine der Mittelstim-
men die Melodie führte, und von ihrer klugen Wahl hängt gewöhnlich das Interesse
und der Effect des ganzen Tonstücks ab. Schweigt der Baß, und eine andre Stimme
vertritt seine Stelle, so gilt die nämliche Bemerkung auch dieser Stimme.


Wem
Siebentes Kapitel.
Von der Stimmenfuͤhrung.

Bei der Stimmenfuͤhrung iſt es Hauptſache: daß jede Stimme beſonders den Aus-
druck und Zweck des melodiſchen Gedankens unterſtuͤtze und erheben helfe, wie es ins-
beſondere bei Orcheſter und mehrſtimmigen Sachen erforderlich iſt. Um eine Klarheit
und Richtigkeit bei der Stimmenfuͤhrung zu erreichen, iſt es noͤthig, den melodiſchen
Haupt Gedanken in mehrern Stimmen und andern Toͤnen; jedoch in der naͤmlichen
Sphaͤre der Harmonie, worinnen ſich die Modulation aufhaͤlt, ſo wie in anderer rhyth-
miſcher Eintheilung, nachzuahmen. Oftmals werden ſogar zwei oder drei Stim-
men contrapunctiſch der melodiſchen Haupt-Idee entgegengefetzt, wodurch der ganze
Satz eine groͤßere Mannigfaltigkeit und Schoͤnheit erhaͤlt. Die Sphaͤre der Harmonie
muß aber genau beobachtet werden, ſonſt bilden die einzelnen Stimmen im Ganzen ei-
nen falſchen Ausdruck.

Um dieſe Anſicht etwas deutlicher zu machen, wie ſich die Stimmen an einander
knuͤpfen, vergroͤßern und verkleinern, ohne aus den Harmonieſchritten heraus zu gehen,
will ich hier nur ein Beiſpiel von Mozart; deſſen Werke davon ſo voll ſind, anfuͤhren:
ſiehe Beilage.

Es iſt darinnen kein einzelner Gedanke, keine Luͤcke anzutreffen und alle Inſtru-
mente bezwecken den Effeckt des Haupt Gedankens.

Ich glaube aber wohl nicht erinnern zu duͤrfen, daß nicht eine jede Stimme eine
beſondere Melodie durchfuͤhren kann, weil dadurch eine Verwirrung und Ueberladung
der Haupt Idee eintreten muͤßte, und ſich oft durchgehende Toͤne mit Wechſel
Toͤnen
beruͤhren, einen Querſtand bilden oder ganz unharmoniſch gegen einander ver-
halten wuͤrden. Vorzuͤglich verdient angemerkt zu werden, daß die Baͤße eine kraͤftigere
und im Gange eine ganz andre Melodie fuͤhren muͤſſen als die Mittelſtimmen, wenn
letztere nicht aus beſonderer Abſicht hervorgehoben werden ſollen, denn außerdem die-
nen ſie mehr zur Begleitung und Unterſtuͤtzung der Haupt Melodie.

Der Baß und die hoͤchſte Stimme muͤſſen als Extreme (die in der Natur immer
einander beruͤhren) die Modulation beſtimmen; es waͤre denn, daß eine der Mittelſtim-
men die Melodie fuͤhrte, und von ihrer klugen Wahl haͤngt gewoͤhnlich das Intereſſe
und der Effect des ganzen Tonſtuͤcks ab. Schweigt der Baß, und eine andre Stimme
vertritt ſeine Stelle, ſo gilt die naͤmliche Bemerkung auch dieſer Stimme.


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[48/0064] Siebentes Kapitel. Von der Stimmenfuͤhrung. Bei der Stimmenfuͤhrung iſt es Hauptſache: daß jede Stimme beſonders den Aus- druck und Zweck des melodiſchen Gedankens unterſtuͤtze und erheben helfe, wie es ins- beſondere bei Orcheſter und mehrſtimmigen Sachen erforderlich iſt. Um eine Klarheit und Richtigkeit bei der Stimmenfuͤhrung zu erreichen, iſt es noͤthig, den melodiſchen Haupt Gedanken in mehrern Stimmen und andern Toͤnen; jedoch in der naͤmlichen Sphaͤre der Harmonie, worinnen ſich die Modulation aufhaͤlt, ſo wie in anderer rhyth- miſcher Eintheilung, nachzuahmen. Oftmals werden ſogar zwei oder drei Stim- men contrapunctiſch der melodiſchen Haupt-Idee entgegengefetzt, wodurch der ganze Satz eine groͤßere Mannigfaltigkeit und Schoͤnheit erhaͤlt. Die Sphaͤre der Harmonie muß aber genau beobachtet werden, ſonſt bilden die einzelnen Stimmen im Ganzen ei- nen falſchen Ausdruck. Um dieſe Anſicht etwas deutlicher zu machen, wie ſich die Stimmen an einander knuͤpfen, vergroͤßern und verkleinern, ohne aus den Harmonieſchritten heraus zu gehen, will ich hier nur ein Beiſpiel von Mozart; deſſen Werke davon ſo voll ſind, anfuͤhren: ſiehe Beilage. Es iſt darinnen kein einzelner Gedanke, keine Luͤcke anzutreffen und alle Inſtru- mente bezwecken den Effeckt des Haupt Gedankens. Ich glaube aber wohl nicht erinnern zu duͤrfen, daß nicht eine jede Stimme eine beſondere Melodie durchfuͤhren kann, weil dadurch eine Verwirrung und Ueberladung der Haupt Idee eintreten muͤßte, und ſich oft durchgehende Toͤne mit Wechſel Toͤnen beruͤhren, einen Querſtand bilden oder ganz unharmoniſch gegen einander ver- halten wuͤrden. Vorzuͤglich verdient angemerkt zu werden, daß die Baͤße eine kraͤftigere und im Gange eine ganz andre Melodie fuͤhren muͤſſen als die Mittelſtimmen, wenn letztere nicht aus beſonderer Abſicht hervorgehoben werden ſollen, denn außerdem die- nen ſie mehr zur Begleitung und Unterſtuͤtzung der Haupt Melodie. Der Baß und die hoͤchſte Stimme muͤſſen als Extreme (die in der Natur immer einander beruͤhren) die Modulation beſtimmen; es waͤre denn, daß eine der Mittelſtim- men die Melodie fuͤhrte, und von ihrer klugen Wahl haͤngt gewoͤhnlich das Intereſſe und der Effect des ganzen Tonſtuͤcks ab. Schweigt der Baß, und eine andre Stimme vertritt ſeine Stelle, ſo gilt die naͤmliche Bemerkung auch dieſer Stimme. Wem

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Zitationshilfe: Siegmeyer, Johann Gottlieb: Theorie der Tonsetzkunst. Berlin, 1822, S. 48. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/siegmeyer_tonsetzkunst_1822/64>, abgerufen am 16.04.2024.