Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

Bild:
<< vorherige Seite
IV.
Das sociale Niveau.


Es ist allgemein zu beobachten, dass das Seltene, Indivi-
duelle, von der Norm sich Abhebende, eine Wertschätzung
geniesst, die sich an seine Form als solches knüpft und inner-
halb weiter Grenzen von seinem specifischen Inhalt unab-
hängig ist. Schon die Sprache lässt die "Seltenheit" zugleich
als Vorzüglichkeit und etwas "ganz Besonderes" ohne weiteren
Zusatz, als etwas ganz besonders Gutes gelten, während das
Gemeine, d. h. das dem weitesten Kreise Eigene, Unindivi-
duelle, zugleich das Niedrige und Wertlose bezeichnet. Es
liegt nahe, zur Erklärung dieser Vorstellungsart darauf hin-
zuweisen, dass alles Gute, alles was ein bewusstes Glücks-
gefühl erregt, selten ist; denn die Lust stumpft sich ausser-
ordentlich schnell ab, und in dem Masse ihrer Häufigkeit tritt
eine Gewöhnung an sie ein, die dann wieder das Niveau
bildet, über das ein neuer Reiz hinausgehen muss, um als
solcher bewusst zu werden. Versteht man deshalb unter dem
Guten die Ursache bewusster Lebensreize, so bedarf es keines
besonderen Pessimismus, um ihm die Seltenheit als notwen-
diges Prädikat zuzusprechen. Ist man sich aber hierüber
klar, so liegt psychologisch die Umkehrung sehr nahe: dass
auch alles Seltene gut sei; so völlig falsch es logischerweise
ist, dass, weil alle a = b sind, nun auch alle b = a sein
sollen, so begeht doch das thatsächliche Denken und Fühlen
unzähligemal diesen Fehlschluss: ein gewisser Styl in künst-
lerischen oder realen Dingen gefällt uns, und ehe wir es uns
versehen, wird er uns zum Massstabe alles Gefallens über-
haupt. Der Satz: der Styl M ist gut, wandelt sich uns für
die Praxis in den: alles Gute muss den Styl M zeigen; ein
Parteiprogramm erscheint uns richtig -- und gar zu bald

IV.
Das sociale Niveau.


Es ist allgemein zu beobachten, daſs das Seltene, Indivi-
duelle, von der Norm sich Abhebende, eine Wertschätzung
genieſst, die sich an seine Form als solches knüpft und inner-
halb weiter Grenzen von seinem specifischen Inhalt unab-
hängig ist. Schon die Sprache läſst die „Seltenheit“ zugleich
als Vorzüglichkeit und etwas „ganz Besonderes“ ohne weiteren
Zusatz, als etwas ganz besonders Gutes gelten, während das
Gemeine, d. h. das dem weitesten Kreise Eigene, Unindivi-
duelle, zugleich das Niedrige und Wertlose bezeichnet. Es
liegt nahe, zur Erklärung dieser Vorstellungsart darauf hin-
zuweisen, daſs alles Gute, alles was ein bewuſstes Glücks-
gefühl erregt, selten ist; denn die Lust stumpft sich auſser-
ordentlich schnell ab, und in dem Maſse ihrer Häufigkeit tritt
eine Gewöhnung an sie ein, die dann wieder das Niveau
bildet, über das ein neuer Reiz hinausgehen muſs, um als
solcher bewuſst zu werden. Versteht man deshalb unter dem
Guten die Ursache bewuſster Lebensreize, so bedarf es keines
besonderen Pessimismus, um ihm die Seltenheit als notwen-
diges Prädikat zuzusprechen. Ist man sich aber hierüber
klar, so liegt psychologisch die Umkehrung sehr nahe: daſs
auch alles Seltene gut sei; so völlig falsch es logischerweise
ist, daſs, weil alle a = b sind, nun auch alle b = a sein
sollen, so begeht doch das thatsächliche Denken und Fühlen
unzähligemal diesen Fehlschluſs: ein gewisser Styl in künst-
lerischen oder realen Dingen gefällt uns, und ehe wir es uns
versehen, wird er uns zum Maſsstabe alles Gefallens über-
haupt. Der Satz: der Styl M ist gut, wandelt sich uns für
die Praxis in den: alles Gute muſs den Styl M zeigen; ein
Parteiprogramm erscheint uns richtig — und gar zu bald

<TEI>
  <text>
    <body>
      <pb facs="#f0084" n="[70]"/>
      <div n="1">
        <head> <hi rendition="#b">IV.<lb/>
Das sociale Niveau.</hi> </head><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        <p>Es ist allgemein zu beobachten, da&#x017F;s das Seltene, Indivi-<lb/>
duelle, von der Norm sich Abhebende, eine Wertschätzung<lb/>
genie&#x017F;st, die sich an seine Form als solches knüpft und inner-<lb/>
halb weiter Grenzen von seinem specifischen Inhalt unab-<lb/>
hängig ist. Schon die Sprache lä&#x017F;st die &#x201E;Seltenheit&#x201C; zugleich<lb/>
als Vorzüglichkeit und etwas &#x201E;ganz Besonderes&#x201C; ohne weiteren<lb/>
Zusatz, als etwas ganz besonders Gutes gelten, während das<lb/>
Gemeine, d. h. das dem weitesten Kreise Eigene, Unindivi-<lb/>
duelle, zugleich das Niedrige und Wertlose bezeichnet. Es<lb/>
liegt nahe, zur Erklärung dieser Vorstellungsart darauf hin-<lb/>
zuweisen, da&#x017F;s alles Gute, alles was ein bewu&#x017F;stes Glücks-<lb/>
gefühl erregt, selten ist; denn die Lust stumpft sich au&#x017F;ser-<lb/>
ordentlich schnell ab, und in dem Ma&#x017F;se ihrer Häufigkeit tritt<lb/>
eine Gewöhnung an sie ein, die dann wieder das Niveau<lb/>
bildet, über das ein neuer Reiz hinausgehen mu&#x017F;s, um als<lb/>
solcher bewu&#x017F;st zu werden. Versteht man deshalb unter dem<lb/>
Guten die Ursache bewu&#x017F;ster Lebensreize, so bedarf es keines<lb/>
besonderen Pessimismus, um ihm die Seltenheit als notwen-<lb/>
diges Prädikat zuzusprechen. Ist man sich aber hierüber<lb/>
klar, so liegt psychologisch die Umkehrung sehr nahe: da&#x017F;s<lb/>
auch alles Seltene gut sei; so völlig falsch es logischerweise<lb/>
ist, da&#x017F;s, weil alle a = b sind, nun auch alle b = a sein<lb/>
sollen, so begeht doch das thatsächliche Denken und Fühlen<lb/>
unzähligemal diesen Fehlschlu&#x017F;s: ein gewisser Styl in künst-<lb/>
lerischen oder realen Dingen gefällt uns, und ehe wir es uns<lb/>
versehen, wird er uns zum Ma&#x017F;sstabe alles Gefallens über-<lb/>
haupt. Der Satz: der Styl M ist gut, wandelt sich uns für<lb/>
die Praxis in den: alles Gute mu&#x017F;s den Styl M zeigen; ein<lb/>
Parteiprogramm erscheint uns richtig &#x2014; und gar zu bald<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[[70]/0084] IV. Das sociale Niveau. Es ist allgemein zu beobachten, daſs das Seltene, Indivi- duelle, von der Norm sich Abhebende, eine Wertschätzung genieſst, die sich an seine Form als solches knüpft und inner- halb weiter Grenzen von seinem specifischen Inhalt unab- hängig ist. Schon die Sprache läſst die „Seltenheit“ zugleich als Vorzüglichkeit und etwas „ganz Besonderes“ ohne weiteren Zusatz, als etwas ganz besonders Gutes gelten, während das Gemeine, d. h. das dem weitesten Kreise Eigene, Unindivi- duelle, zugleich das Niedrige und Wertlose bezeichnet. Es liegt nahe, zur Erklärung dieser Vorstellungsart darauf hin- zuweisen, daſs alles Gute, alles was ein bewuſstes Glücks- gefühl erregt, selten ist; denn die Lust stumpft sich auſser- ordentlich schnell ab, und in dem Maſse ihrer Häufigkeit tritt eine Gewöhnung an sie ein, die dann wieder das Niveau bildet, über das ein neuer Reiz hinausgehen muſs, um als solcher bewuſst zu werden. Versteht man deshalb unter dem Guten die Ursache bewuſster Lebensreize, so bedarf es keines besonderen Pessimismus, um ihm die Seltenheit als notwen- diges Prädikat zuzusprechen. Ist man sich aber hierüber klar, so liegt psychologisch die Umkehrung sehr nahe: daſs auch alles Seltene gut sei; so völlig falsch es logischerweise ist, daſs, weil alle a = b sind, nun auch alle b = a sein sollen, so begeht doch das thatsächliche Denken und Fühlen unzähligemal diesen Fehlschluſs: ein gewisser Styl in künst- lerischen oder realen Dingen gefällt uns, und ehe wir es uns versehen, wird er uns zum Maſsstabe alles Gefallens über- haupt. Der Satz: der Styl M ist gut, wandelt sich uns für die Praxis in den: alles Gute muſs den Styl M zeigen; ein Parteiprogramm erscheint uns richtig — und gar zu bald

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/84
Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. [70]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/84>, abgerufen am 28.03.2024.