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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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Allgemeinheit zur Last fallen. Für dieses Verhältnis haben
wir ein Symbol, das auch an sich für die Frage der Kollek-
tivverantwortlichkeit wichtig ist, an den Aktiengesellschaften.
Wo persönliche Haftbarkeit stattfindet, da wird schon das
eigene Interesse die Tendenz haben, vor allzu gewagter Spe-
kulation, vor Überschuldung, Überproduktion u. s. w. zu be-
wahren. Für den Vorstand einer Aktiengesellschaft dagegen,
der mit fremdem Gelde operiert, fehlt dieser Regulator; er
kann in ein Risiko eintreten, von dessen Gelingen er mit pro-
fitiert, dessen Misslingen aber weiter keine Konsequenzen für
ihn hat, als dass er einfach herausgeht, wenn die Sache zu-
sammengebrochen ist, während die Gläubiger das Nachsehen
haben. Wie in jenem moralischen Falle die Schuld, lasten im
ökonomischen die Schulden auf einem Wesen, dessen Unper-
sönlichkeit diese Überwälzung duldet und zu ihr verlockt.
Hier ist jedoch recht zu beobachten, wie ein fortschreitender,
in sehr verwickelte Verhältnisse eingreifender Gedanke dif-
ferenzierend wirkt, d. h. Förderung und Zuspitzung ganz ent-
gegengesetzter Tendenzen in gleichem Masse bringt. Denn
während einerseits die Erkenntnis unserer socialen Abhängig-
keit das individuelle Gewissen abstumpfen kann, muss sie
dasselbe andererseits schärfen, weil sie lehrt, dass jeder Mensch
im Schnittpunkt unzähliger socialer Fäden steht, so dass jede
seiner Handlungen die mannichfachsten socialen Wirkungen
haben muss; innerhalb der socialen Gruppe fällt sozusagen
kein Samenkorn auf den Felsen, wofür die an keinem Punkt
unterbrochenen Wechselwirkungen mit der lebenden Gene-
ration in Hinsicht der Gegenwart, der Einfluss jedes Thuns
auf das Vererbungsmaterial aber in Hinsicht der Zukunft
sorgen. Die Beschränkung des Individuums auf sich selbst
hört sowohl a parte ante wie a parte post auf, so dass die
sociologische Betrachtung sowohl seine Entlastung wie seine
Belastung steigert und sich so als echtes Kulturprinzip er-
weist, das von der Einheit einer Idee aus differenteste In-
halte des Lebens zu weiterer Ausgeprägtheit und Vertiefung
differenziert.



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Allgemeinheit zur Last fallen. Für dieses Verhältnis haben
wir ein Symbol, das auch an sich für die Frage der Kollek-
tivverantwortlichkeit wichtig ist, an den Aktiengesellschaften.
Wo persönliche Haftbarkeit stattfindet, da wird schon das
eigene Interesse die Tendenz haben, vor allzu gewagter Spe-
kulation, vor Überschuldung, Überproduktion u. s. w. zu be-
wahren. Für den Vorstand einer Aktiengesellschaft dagegen,
der mit fremdem Gelde operiert, fehlt dieser Regulator; er
kann in ein Risiko eintreten, von dessen Gelingen er mit pro-
fitiert, dessen Miſslingen aber weiter keine Konsequenzen für
ihn hat, als daſs er einfach herausgeht, wenn die Sache zu-
sammengebrochen ist, während die Gläubiger das Nachsehen
haben. Wie in jenem moralischen Falle die Schuld, lasten im
ökonomischen die Schulden auf einem Wesen, dessen Unper-
sönlichkeit diese Überwälzung duldet und zu ihr verlockt.
Hier ist jedoch recht zu beobachten, wie ein fortschreitender,
in sehr verwickelte Verhältnisse eingreifender Gedanke dif-
ferenzierend wirkt, d. h. Förderung und Zuspitzung ganz ent-
gegengesetzter Tendenzen in gleichem Maſse bringt. Denn
während einerseits die Erkenntnis unserer socialen Abhängig-
keit das individuelle Gewissen abstumpfen kann, muſs sie
dasselbe andererseits schärfen, weil sie lehrt, daſs jeder Mensch
im Schnittpunkt unzähliger socialer Fäden steht, so daſs jede
seiner Handlungen die mannichfachsten socialen Wirkungen
haben muſs; innerhalb der socialen Gruppe fällt sozusagen
kein Samenkorn auf den Felsen, wofür die an keinem Punkt
unterbrochenen Wechselwirkungen mit der lebenden Gene-
ration in Hinsicht der Gegenwart, der Einfluſs jedes Thuns
auf das Vererbungsmaterial aber in Hinsicht der Zukunft
sorgen. Die Beschränkung des Individuums auf sich selbst
hört sowohl a parte ante wie a parte post auf, so daſs die
sociologische Betrachtung sowohl seine Entlastung wie seine
Belastung steigert und sich so als echtes Kulturprinzip er-
weist, das von der Einheit einer Idee aus differenteste In-
halte des Lebens zu weiterer Ausgeprägtheit und Vertiefung
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[44/0058] X 1. Allgemeinheit zur Last fallen. Für dieses Verhältnis haben wir ein Symbol, das auch an sich für die Frage der Kollek- tivverantwortlichkeit wichtig ist, an den Aktiengesellschaften. Wo persönliche Haftbarkeit stattfindet, da wird schon das eigene Interesse die Tendenz haben, vor allzu gewagter Spe- kulation, vor Überschuldung, Überproduktion u. s. w. zu be- wahren. Für den Vorstand einer Aktiengesellschaft dagegen, der mit fremdem Gelde operiert, fehlt dieser Regulator; er kann in ein Risiko eintreten, von dessen Gelingen er mit pro- fitiert, dessen Miſslingen aber weiter keine Konsequenzen für ihn hat, als daſs er einfach herausgeht, wenn die Sache zu- sammengebrochen ist, während die Gläubiger das Nachsehen haben. Wie in jenem moralischen Falle die Schuld, lasten im ökonomischen die Schulden auf einem Wesen, dessen Unper- sönlichkeit diese Überwälzung duldet und zu ihr verlockt. Hier ist jedoch recht zu beobachten, wie ein fortschreitender, in sehr verwickelte Verhältnisse eingreifender Gedanke dif- ferenzierend wirkt, d. h. Förderung und Zuspitzung ganz ent- gegengesetzter Tendenzen in gleichem Maſse bringt. Denn während einerseits die Erkenntnis unserer socialen Abhängig- keit das individuelle Gewissen abstumpfen kann, muſs sie dasselbe andererseits schärfen, weil sie lehrt, daſs jeder Mensch im Schnittpunkt unzähliger socialer Fäden steht, so daſs jede seiner Handlungen die mannichfachsten socialen Wirkungen haben muſs; innerhalb der socialen Gruppe fällt sozusagen kein Samenkorn auf den Felsen, wofür die an keinem Punkt unterbrochenen Wechselwirkungen mit der lebenden Gene- ration in Hinsicht der Gegenwart, der Einfluſs jedes Thuns auf das Vererbungsmaterial aber in Hinsicht der Zukunft sorgen. Die Beschränkung des Individuums auf sich selbst hört sowohl a parte ante wie a parte post auf, so daſs die sociologische Betrachtung sowohl seine Entlastung wie seine Belastung steigert und sich so als echtes Kulturprinzip er- weist, das von der Einheit einer Idee aus differenteste In- halte des Lebens zu weiterer Ausgeprägtheit und Vertiefung differenziert.

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/58>, abgerufen am 25.04.2024.