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Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 2. Halle (Saale), 1701.

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Das vierdte Capitel.
SECTIO XII.
Retractatio
eines falsi vor der Obrigkeit. Von
einem casu, da zwey personen zwantzig jahr unter dem schein
cheleut zu seyn/ mit einander gelebet/ da sie aber nie copuliret
worden. Was darinne zu thun. Von der eusserlichen
kirchen-disciplin.

WAß die neulich überschriebene sache betrifft/ so bekenne ich/ daß ich
noch am liebsten bey meinen gedancken bleibe/ daß die retractatio des
vor der Obrigkeit ausgesagten/ niemand schädlichen falsi nicht blos-
ser dings nothwendig wäre/ ausser dem fall/ da sie nochmal vorgefordert
würde/ und alsdann freylich nicht wiederum liegen dörffte; ein anders wäre
es/ wo sie ihre eigene sünde geleugnet/ und sich damit loßgemachet/ wo ich ihr
gewissen nicht anders zu beruhigen wüste/ als durch ultroneam confessio-
nem.
Jetzt aber ist es zuthun um eine sünde/ so gleichsam der Obrigkeit un-
bekant/ da sie nicht wohl mehr dazu verbunden ist/ solche von freyen stücken
anzugeben/ als in andern fällen/ welche der Obrigkeit nicht bekant/ ein reus
nicht eben schuldig ohnerfordert sich selbs anzugeben/ und die straffe über sich
zufordern. Also wird keine schuld auf die Obrigkeit geladen/ welche zustraf-
fen bereit/ was ihr bekant wäre; so entstehet auch kein weiter ärgernüß/ als
viel ich sehen kan. Sonderlich deucht mich/ daß um der selbs angeführten
ursach willen wir eben diejenige nicht seyn sollen/ welche die sünden zur welt-
lichen straff angeben müsten/ als derer amt ist/ die sünder zu der buß suchen
zu führen/ und die obrigkeit zu verrichtung ihres amts anzumahnen: Daß
sie aber zu nöthiger wissenschafft vorgegangener laster kommen möge/ solle
sie andere personen dazu billich brauchen/ und hingegen unser amt mit sol-
cher nothwendigkeit verschonet bleiben. Jedoch lasse es ferner/ wie vormals
meines geliebten bruders eigener beurtheilung/ als der ich nicht anders als
meine unvorgreiffliche meinung sage. Was den andern casum betrifft/ ist
derselbe sehr schwehr und intricat, ich will aber gleichwohl meine meinung
aufs einfältigste fassen 1. Zum grunde lege ich dieses voraus/ daß die be-
nedictio sacerdotalis
weder de essentia conjugii noch auch simpliciter ne-
cessaria
seye. Wie ich dann weder aus heiliger schrifft ein gnugsam bündi-
ges argument vor solche nothwendigkeit/ noch vielweniger deutlichen spruch
davon finde/ noch sehe/ daß einiges dergleichen von so Theologis als Juri-
sten/ die diese materie tractiret/ aufgebracht werden könne. Wie etwa die
reiffliche und unpartheyische betrachtung der anführenden rationum selb-
sten endlich zeigen wird/ wie viel krafft und nachtruck darinnen seye. Daher

nicht
Das vierdte Capitel.
SECTIO XII.
Retractatio
eines falſi vor der Obrigkeit. Von
einem caſu, da zwey perſonen zwantzig jahr unter dem ſchein
cheleut zu ſeyn/ mit einander gelebet/ da ſie aber nie copuliret
worden. Was darinne zu thun. Von der euſſerlichen
kirchen-diſciplin.

WAß die neulich uͤberſchriebene ſache betrifft/ ſo bekenne ich/ daß ich
noch am liebſten bey meinen gedancken bleibe/ daß die retractatio des
vor der Obrigkeit ausgeſagten/ niemand ſchaͤdlichen falſi nicht bloſ-
ſer dings nothwendig waͤre/ auſſer dem fall/ da ſie nochmal vorgefordert
wuͤrde/ und alsdann freylich nicht wiederum liegen doͤrffte; ein anders waͤre
es/ wo ſie ihre eigene ſuͤnde geleugnet/ und ſich damit loßgemachet/ wo ich ihr
gewiſſen nicht anders zu beruhigen wuͤſte/ als durch ultroneam confeſſio-
nem.
Jetzt aber iſt es zuthun um eine ſuͤnde/ ſo gleichſam der Obrigkeit un-
bekant/ da ſie nicht wohl mehr dazu verbunden iſt/ ſolche von freyen ſtuͤcken
anzugeben/ als in andern faͤllen/ welche der Obrigkeit nicht bekant/ ein reus
nicht eben ſchuldig ohnerfordert ſich ſelbs anzugeben/ und die ſtraffe uͤber ſich
zufordern. Alſo wird keine ſchuld auf die Obrigkeit geladen/ welche zuſtraf-
fen bereit/ was ihr bekant waͤre; ſo entſtehet auch kein weiter aͤrgernuͤß/ als
viel ich ſehen kan. Sonderlich deucht mich/ daß um der ſelbs angefuͤhrten
urſach willen wir eben diejenige nicht ſeyn ſollen/ welche die ſuͤnden zur welt-
lichen ſtraff angeben muͤſten/ als derer amt iſt/ die ſuͤnder zu der buß ſuchen
zu fuͤhren/ und die obrigkeit zu verrichtung ihres amts anzumahnen: Daß
ſie aber zu noͤthiger wiſſenſchafft vorgegangener laſter kommen moͤge/ ſolle
ſie andere perſonen dazu billich brauchen/ und hingegen unſer amt mit ſol-
cher nothwendigkeit verſchonet bleiben. Jedoch laſſe es ferner/ wie vormals
meines geliebten bruders eigener beurtheilung/ als der ich nicht anders als
meine unvorgreiffliche meinung ſage. Was den andern caſum betrifft/ iſt
derſelbe ſehr ſchwehr und intricat, ich will aber gleichwohl meine meinung
aufs einfaͤltigſte faſſen 1. Zum grunde lege ich dieſes voraus/ daß die be-
nedictio ſacerdotalis
weder de eſſentia conjugii noch auch ſimpliciter ne-
ceſſaria
ſeye. Wie ich dann weder aus heiliger ſchrifft ein gnugſam buͤndi-
ges argument vor ſolche nothwendigkeit/ noch vielweniger deutlichen ſpruch
davon finde/ noch ſehe/ daß einiges dergleichen von ſo Theologis als Juri-
ſten/ die dieſe materie tractiret/ aufgebracht werden koͤnne. Wie etwa die
reiffliche und unpartheyiſche betrachtung der anfuͤhrenden rationum ſelb-
ſten endlich zeigen wird/ wie viel krafft und nachtruck darinnen ſeye. Daher

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[566/0574] Das vierdte Capitel. SECTIO XII. Retractatio eines falſi vor der Obrigkeit. Von einem caſu, da zwey perſonen zwantzig jahr unter dem ſchein cheleut zu ſeyn/ mit einander gelebet/ da ſie aber nie copuliret worden. Was darinne zu thun. Von der euſſerlichen kirchen-diſciplin. WAß die neulich uͤberſchriebene ſache betrifft/ ſo bekenne ich/ daß ich noch am liebſten bey meinen gedancken bleibe/ daß die retractatio des vor der Obrigkeit ausgeſagten/ niemand ſchaͤdlichen falſi nicht bloſ- ſer dings nothwendig waͤre/ auſſer dem fall/ da ſie nochmal vorgefordert wuͤrde/ und alsdann freylich nicht wiederum liegen doͤrffte; ein anders waͤre es/ wo ſie ihre eigene ſuͤnde geleugnet/ und ſich damit loßgemachet/ wo ich ihr gewiſſen nicht anders zu beruhigen wuͤſte/ als durch ultroneam confeſſio- nem. Jetzt aber iſt es zuthun um eine ſuͤnde/ ſo gleichſam der Obrigkeit un- bekant/ da ſie nicht wohl mehr dazu verbunden iſt/ ſolche von freyen ſtuͤcken anzugeben/ als in andern faͤllen/ welche der Obrigkeit nicht bekant/ ein reus nicht eben ſchuldig ohnerfordert ſich ſelbs anzugeben/ und die ſtraffe uͤber ſich zufordern. Alſo wird keine ſchuld auf die Obrigkeit geladen/ welche zuſtraf- fen bereit/ was ihr bekant waͤre; ſo entſtehet auch kein weiter aͤrgernuͤß/ als viel ich ſehen kan. Sonderlich deucht mich/ daß um der ſelbs angefuͤhrten urſach willen wir eben diejenige nicht ſeyn ſollen/ welche die ſuͤnden zur welt- lichen ſtraff angeben muͤſten/ als derer amt iſt/ die ſuͤnder zu der buß ſuchen zu fuͤhren/ und die obrigkeit zu verrichtung ihres amts anzumahnen: Daß ſie aber zu noͤthiger wiſſenſchafft vorgegangener laſter kommen moͤge/ ſolle ſie andere perſonen dazu billich brauchen/ und hingegen unſer amt mit ſol- cher nothwendigkeit verſchonet bleiben. Jedoch laſſe es ferner/ wie vormals meines geliebten bruders eigener beurtheilung/ als der ich nicht anders als meine unvorgreiffliche meinung ſage. Was den andern caſum betrifft/ iſt derſelbe ſehr ſchwehr und intricat, ich will aber gleichwohl meine meinung aufs einfaͤltigſte faſſen 1. Zum grunde lege ich dieſes voraus/ daß die be- nedictio ſacerdotalis weder de eſſentia conjugii noch auch ſimpliciter ne- ceſſaria ſeye. Wie ich dann weder aus heiliger ſchrifft ein gnugſam buͤndi- ges argument vor ſolche nothwendigkeit/ noch vielweniger deutlichen ſpruch davon finde/ noch ſehe/ daß einiges dergleichen von ſo Theologis als Juri- ſten/ die dieſe materie tractiret/ aufgebracht werden koͤnne. Wie etwa die reiffliche und unpartheyiſche betrachtung der anfuͤhrenden rationum ſelb- ſten endlich zeigen wird/ wie viel krafft und nachtruck darinnen ſeye. Daher nicht

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Zitationshilfe: Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 2. Halle (Saale), 1701, S. 566. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spener_bedencken02_1701/574>, abgerufen am 23.04.2024.