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Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880.

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noch einmal aufschluchzen. Aber es bezwang sich jetzt mit
Gewalt, denn es verstand, daß es sich am Tisch ruhig ver¬
halten mußte. Sebastian machte heute jedes Mal die merk¬
würdigsten Geberden, wenn er in Heidi's Nähe kam; er
deutete bald auf seinen, bald auf Heidi's Kopf, dann nickte
er wieder und kniff die Augen zu, so als wollte er sagen:
"Nur getrost! Ich hab's schon gemerkt und besorgt."

Als Heidi später in sein Zimmer kam und in sein Bett
steigen wollte, lag sein zerdrücktes Strohhütchen unter der
Decke versteckt. Mit Entzücken zog es den alten Hut her¬
vor, zerdrückte ihn vor lauter Freude noch ein wenig mehr
und versteckte ihn dann, in ein Taschentüchlein eingewickelt,
in die allerhinterste Ecke seines Schranks. Das Hütchen
hatte der Sebastian unter die Decke gesteckt; er war zu
gleicher Zeit mit Tinette im Eßzimmer gewesen, als diese
gerufen wurde, und hatte Heidi's Jammerruf vernommen.
Dann war er Tinette nachgegangen, und als sie aus Heidi's
Zimmer heraustrat mit ihrer Brodlast und dem Hütchen
oben drauf, hatte er schnell dieses weggenommen und ihr
zugerufen: "Das will ich schon fort thun." Darauf hatte
er es in aller Freude für Heidi gerettet, was er ihm beim
Abendessen zur Erheiterung andeuten wollte.


noch einmal aufſchluchzen. Aber es bezwang ſich jetzt mit
Gewalt, denn es verſtand, daß es ſich am Tiſch ruhig ver¬
halten mußte. Sebaſtian machte heute jedes Mal die merk¬
würdigſten Geberden, wenn er in Heidi's Nähe kam; er
deutete bald auf ſeinen, bald auf Heidi's Kopf, dann nickte
er wieder und kniff die Augen zu, ſo als wollte er ſagen:
„Nur getroſt! Ich hab's ſchon gemerkt und beſorgt.“

Als Heidi ſpäter in ſein Zimmer kam und in ſein Bett
ſteigen wollte, lag ſein zerdrücktes Strohhütchen unter der
Decke verſteckt. Mit Entzücken zog es den alten Hut her¬
vor, zerdrückte ihn vor lauter Freude noch ein wenig mehr
und verſteckte ihn dann, in ein Taſchentüchlein eingewickelt,
in die allerhinterſte Ecke ſeines Schranks. Das Hütchen
hatte der Sebaſtian unter die Decke geſteckt; er war zu
gleicher Zeit mit Tinette im Eßzimmer geweſen, als dieſe
gerufen wurde, und hatte Heidi's Jammerruf vernommen.
Dann war er Tinette nachgegangen, und als ſie aus Heidi's
Zimmer heraustrat mit ihrer Brodlaſt und dem Hütchen
oben drauf, hatte er ſchnell dieſes weggenommen und ihr
zugerufen: „Das will ich ſchon fort thun.“ Darauf hatte
er es in aller Freude für Heidi gerettet, was er ihm beim
Abendeſſen zur Erheiterung andeuten wollte.


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[139/0149] noch einmal aufſchluchzen. Aber es bezwang ſich jetzt mit Gewalt, denn es verſtand, daß es ſich am Tiſch ruhig ver¬ halten mußte. Sebaſtian machte heute jedes Mal die merk¬ würdigſten Geberden, wenn er in Heidi's Nähe kam; er deutete bald auf ſeinen, bald auf Heidi's Kopf, dann nickte er wieder und kniff die Augen zu, ſo als wollte er ſagen: „Nur getroſt! Ich hab's ſchon gemerkt und beſorgt.“ Als Heidi ſpäter in ſein Zimmer kam und in ſein Bett ſteigen wollte, lag ſein zerdrücktes Strohhütchen unter der Decke verſteckt. Mit Entzücken zog es den alten Hut her¬ vor, zerdrückte ihn vor lauter Freude noch ein wenig mehr und verſteckte ihn dann, in ein Taſchentüchlein eingewickelt, in die allerhinterſte Ecke ſeines Schranks. Das Hütchen hatte der Sebaſtian unter die Decke geſteckt; er war zu gleicher Zeit mit Tinette im Eßzimmer geweſen, als dieſe gerufen wurde, und hatte Heidi's Jammerruf vernommen. Dann war er Tinette nachgegangen, und als ſie aus Heidi's Zimmer heraustrat mit ihrer Brodlaſt und dem Hütchen oben drauf, hatte er ſchnell dieſes weggenommen und ihr zugerufen: „Das will ich ſchon fort thun.“ Darauf hatte er es in aller Freude für Heidi gerettet, was er ihm beim Abendeſſen zur Erheiterung andeuten wollte.

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Zitationshilfe: Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880, S. 139. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/149>, abgerufen am 28.03.2024.