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Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880.

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daß auch sie zum Empfang der Frau Sesemann zu erscheinen
hatte. Heidi war beordert worden, sich in sein Zimmer
zurückzuziehen und da zu warten, bis es gerufen würde,
denn die Großmama würde zuerst bei Klara eintreten und
diese wohl allein sehen wollen. Heidi setzte sich in einen
Winkel und repetirte seine Anrede. Es währte gar nicht
lange, so steckte die Tinette den Kopf ein klein wenig unter
Heidi's Zimmerthür und sagte kurz angebunden wie immer:
"Hinübergehen in's Studierzimmer!"

Heidi hatte Fräulein Rottenmeier nicht fragen dürfen,
wie es mit der Anrede sei, aber es dachte, die Dame habe
sich nur versprochen, denn es hatte bis jetzt immer erst den
Titel nennen gehört und nachher den Namen, so hatte es sich
nun die Sache zurechtgelegt. Wie es die Thüre zum Studier¬
zimmer aufmachte, rief ihm die Großmama mit freundlicher
Stimme entgegen: "Ach, da kommt ja das Kind! Komm'
'mal her zu mir und laß dich recht ansehen."

Heidi trat heran, und mit seiner klaren Stimme sagte
es sehr deutlich: "Guten Tag, Frau Gnädige."

"Warum nicht gar!" lachte die Großmama. "Sagt
man so bei euch? Hast du das daheim auf der Alp ge¬
hört?"

"Nein, bei uns heißt Niemand so", erklärte Heidi
ernsthaft.

"So, bei uns auch nicht", lachte die Großmama wie¬
der und klopfte Heidi freundlich auf die Wange. "Das

daß auch ſie zum Empfang der Frau Seſemann zu erſcheinen
hatte. Heidi war beordert worden, ſich in ſein Zimmer
zurückzuziehen und da zu warten, bis es gerufen würde,
denn die Großmama würde zuerſt bei Klara eintreten und
dieſe wohl allein ſehen wollen. Heidi ſetzte ſich in einen
Winkel und repetirte ſeine Anrede. Es währte gar nicht
lange, ſo ſteckte die Tinette den Kopf ein klein wenig unter
Heidi's Zimmerthür und ſagte kurz angebunden wie immer:
„Hinübergehen in's Studierzimmer!“

Heidi hatte Fräulein Rottenmeier nicht fragen dürfen,
wie es mit der Anrede ſei, aber es dachte, die Dame habe
ſich nur verſprochen, denn es hatte bis jetzt immer erſt den
Titel nennen gehört und nachher den Namen, ſo hatte es ſich
nun die Sache zurechtgelegt. Wie es die Thüre zum Studier¬
zimmer aufmachte, rief ihm die Großmama mit freundlicher
Stimme entgegen: „Ach, da kommt ja das Kind! Komm'
'mal her zu mir und laß dich recht anſehen.“

Heidi trat heran, und mit ſeiner klaren Stimme ſagte
es ſehr deutlich: „Guten Tag, Frau Gnädige.“

„Warum nicht gar!“ lachte die Großmama. „Sagt
man ſo bei euch? Haſt du das daheim auf der Alp ge¬
hört?“

„Nein, bei uns heißt Niemand ſo“, erklärte Heidi
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[151/0161] daß auch ſie zum Empfang der Frau Seſemann zu erſcheinen hatte. Heidi war beordert worden, ſich in ſein Zimmer zurückzuziehen und da zu warten, bis es gerufen würde, denn die Großmama würde zuerſt bei Klara eintreten und dieſe wohl allein ſehen wollen. Heidi ſetzte ſich in einen Winkel und repetirte ſeine Anrede. Es währte gar nicht lange, ſo ſteckte die Tinette den Kopf ein klein wenig unter Heidi's Zimmerthür und ſagte kurz angebunden wie immer: „Hinübergehen in's Studierzimmer!“ Heidi hatte Fräulein Rottenmeier nicht fragen dürfen, wie es mit der Anrede ſei, aber es dachte, die Dame habe ſich nur verſprochen, denn es hatte bis jetzt immer erſt den Titel nennen gehört und nachher den Namen, ſo hatte es ſich nun die Sache zurechtgelegt. Wie es die Thüre zum Studier¬ zimmer aufmachte, rief ihm die Großmama mit freundlicher Stimme entgegen: „Ach, da kommt ja das Kind! Komm' 'mal her zu mir und laß dich recht anſehen.“ Heidi trat heran, und mit ſeiner klaren Stimme ſagte es ſehr deutlich: „Guten Tag, Frau Gnädige.“ „Warum nicht gar!“ lachte die Großmama. „Sagt man ſo bei euch? Haſt du das daheim auf der Alp ge¬ hört?“ „Nein, bei uns heißt Niemand ſo“, erklärte Heidi ernſthaft. „So, bei uns auch nicht“, lachte die Großmama wie¬ der und klopfte Heidi freundlich auf die Wange. „Das

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Zitationshilfe: Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880, S. 151. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/161>, abgerufen am 28.03.2024.