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Stéenhof, Frieda: Die Moral des Feminismus. In: Ethische Kultur (1907). S. 106–109.

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Die Moral des Feminismus.

Es gibt Menschen, die glauben, daß der Feminismus
ohne Moral sei, keine ethischen Forderungen kenne, keine
Sehnsucht nach Verbesserung und Veredelung der Mensch-
heit habe.

Solche niedrige Auffassung einer Strömung, die man
am richtigsten eine Rechtfertigungsbewegung nennen könnte, -
denn der Feminismus ist eigentlich ein Notschrei nach Wahr-
heit und Gerechtigkeit - setzt eine Art von geistiger Blind-
heit voraus. Mit Blinden kann man aber nicht über
Farben disputieren. Die meisten Menschen geben bereits
zu, daß der Feminismus eine reine, moralische Grundidee
hat, aber sie begreifen noch nicht, daß diese besser, nützlicher
oder praktischer sein könnte, als die Jdeen, an die sie seit
ihrer Kindheit gewöhnt sind. Sie erkennen nicht, daß die
übliche herrschende Moral sie verhindert, die geistigen Ent-
wickelungshöhen der Menschheit zu erreichen.

Der Feminismus versucht sich mit der äußersten Grenze
der jetzigen Kultur zu vereinigen, er empört sich gegen
das Ueberlieferte, Zurückgebliebene, Entwachsene, das, von
den höchststehenden Menschen verworfen, doch noch die große
Masse beherrscht. Er unterscheidet sich von der herrschenden
Moral vor Allem dadurch, daß er den Menschen nicht als
ein von der Geburt durch Sünde verderbtes Wesen, als ein
Schadentier betrachtet, das in jeder Weise geknechtet, ge-
bunden, gequält und verunstaltet werden darf. Der
Feminismus ist nicht pessimistisch, er glaubt nicht an die
ewige Herrschaft der Not, sondern im Gegenteil an eine
lichte Zukunft; er glaubt, daß die Menschen in dem Grade
ihr Schicksal verbessern werden, wie ihr eigener Wille dazu
wächst, wenn auch ihre Vernunft noch nicht so groß ist,
daß sie sofort die richtigen Mittel und Wege finden. Die
Meisten unter uns stellen sich vor, daß die Menschheit noch
eine lange Zukunft zur Besserung vor sich habe. Es ist
auch schwer, etwas anderes zu glauben. Vielleicht ge-
schieht es trotzdem eines Tages, daß wir von der Erde
verschwinden, und daß dies das Ende unserer Arbeit und
Mühe ist. Wir können uns vorstellen, daß die Erde ruhig
ihren Lauf fortsetzt, ohne daß unser Geschlecht sie mit seiner
Gegenwart beehrt. Wir können uns Städte in Trümmern
unter Sand verschüttet, unbebaute Felder, Wälder und
Tiefen in wilder Schönheit vorstellen, Landschaften, die noch
nie eines Menschen Fuß betreten, wo nur Tiere, ein freies
Leben führend, umherstreifen.

Das Menschengeschlecht kann durch Seuchen oder
Natur-Revolutionen gänzlich vertilgt werden - das ist
wenigstens keine völlige Unmöglichkeit.

Es ist nicht zu leugnen, daß man eine gewisse Ruhe
bei dem Gedanken an solch ein Verschwinden empfindet. -
Das Weltall würde uns nicht vermissen!

Es hat aber vorläufig nicht den Anschein, als ob[Spaltenumbruch] die Menschheit sobald aufhören sollte. Die Hoffnung, daß
glücklichere Daseinsstufen kommen könnten, gibt auch Be-
friedigung. Und könnte nicht die Menschheit mit den ihr
innewohnenden Möglichkeiten sich einst ein herrliches Schicksal
erschaffen, statt wie eine Katze im Brunnen zu ertrinken?
Wie manche Wegstrecken hat sie schon zurückgelegt! Aus
ihrer Neugier hat sie die Wissenschaften erweckt, aus
ihrem Feingefühl die schönen Künste erschaffen, aus ihrer
Sehnsucht nach regelmäßigen Gewohnheiten die Moral gebildet. Jhr Schaffen steht noch in den Anfängen. Jn
Hinsicht auf Kultur ist sie noch sehr jung. Wie wird das
Werk werden? Niemand weiß es. Die Völker arbeiten
unermüdlich an einer Zivilisation, von deren Ausdehnungs-
möglichkeiten sie keine Ahnung haben. Auch die scharf-
sinnigsten Geister entdecken oft im Alter, daß die Ent-
wickelung eine ganz andere Richtung genommen hat, als
in ihren Absichten lag; oft stößt sie alle Berechnungen um.
Aber als allgemeines Urteil ist festzuhalten, daß die Be-
wegung dem Einzelnen Gelegenheit geben will, sich seiner
Jndividualität nach reich und harmonisch zu entwickeln.
Der Feminismus betrachtet die Wünsche und Leidenschaften
der Natur nicht als zerstörende Kräfte, die vernichtet werden
müssen, sondern als schöpferische, die entwickelt werden
sollen, um der Allgemeinheit Nutzen zu bringen. Der
Feminismus weist auf keinen zweifelhaften Himmel, sondern
auf eine unkultivierte Erde hin, aus der ein Himmel zu
schaffen wäre. - Die sogenannte herrschende Moral tut,
als ob sie das Gewissen achte und umgibt ihre Heuchelei
mit viel äußerem Pomp; sie herrscht aber mit Brutalität
und Tyrannei; sie ist antihuman und antisozial, weil sie
Bitterkeit und Haß zwischen dem Volk und den höheren
Ständen schürt. Die Moral des Feminismus ist human
und sozial; sie will die Entwickelung und Vervollkommnung
des Einzelnen und erkennt seinen Selbstzweck an; sie will
eine bessere Welt als Bedingung für den Bestand einer
glücklichen Menschheit. Die bestehende Moral betet die
Kraft an; sie ist kriechend und höflich gegen die Mächtigen
und Großen, hart und unbarmherzig gegen die Machtlosen
und Schwachen; sie billigt Alles, was gelingt - zuweilen sogar
die größten Verbrechen; sie ehrt Wappenschilder, Zeremonien
und Banknoten, - das ist die Dreieinigkeit, die sie sowohl
in der Häuslichkeit wie in der Kirche anbetet. Die Moral
des Feminismus hat nur das Streben eines ehrlichen Ge-
wissens; sie fällt verschiedene Urteile bei den verschiedenen
Graden der Verantwortung. Daher verzeiht sie denen, die
aus Unkenntnis und Not fehlen, und ist barmherzig gegen
diejenigen, die sich bemühen, ein begangenes Unrecht gut
zu machen. Anstatt der Macht verherrlicht sie die Ge-
rechtigkeit
, die Wahrheit und die Güte. Dadurch,
daß die herrschende Moral die Partei der der Starken gegen
die Schwachen vertritt, wird der Mann verleitet, das Weib
zu unterjochen; sie will den Zustand des Despotismus und
der Sklaverei zwischen ihnen erhalten. Zu diesem Zweck hat
sie versucht, dem Mann das Herz und der Frau den
Verstand zu rauben. Jeder Mensch ist ja physiologisch
gesprochen Kopf und Herz. Es liegt auf der Hand, daß
sie einen Ersatz für diese beiden Organe suchte. Jdeal
wäre es, wenn jeder Mensch sowohl Zartgefühl als auch
Jntelligenz besäße. Eine ganze volle Persönlichkeit!

Die herrschende Moral hat versucht, die ganze Fein-
fühligkeit der Frau und den ganzen Verstand dem Manne
zuzuweisen, und hat dadurch ihre geistigen Persönlichkeiten
einseitig stark entwickelt.

Dadurch entstand der bisherige Mangel an geistiger
Sympathie zwischen den Geschlechtern.

Oft ist die Frau mit einem nicht zartfühlenden Manne
unglücklich geworden, oft hat der Mann sich mit einer
Frau ohne Jntelligenz gelangweilt, und seine geistige Ge-
meinschaft wo anders gesucht. Der Feminismus will die
möglichst vollkommene Entwickelung jeder Persönlichkeit.

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Die Moral des Feminismus.

Es gibt Menschen, die glauben, daß der Feminismus
ohne Moral sei, keine ethischen Forderungen kenne, keine
Sehnsucht nach Verbesserung und Veredelung der Mensch-
heit habe.

Solche niedrige Auffassung einer Strömung, die man
am richtigsten eine Rechtfertigungsbewegung nennen könnte, –
denn der Feminismus ist eigentlich ein Notschrei nach Wahr-
heit und Gerechtigkeit – setzt eine Art von geistiger Blind-
heit voraus. Mit Blinden kann man aber nicht über
Farben disputieren. Die meisten Menschen geben bereits
zu, daß der Feminismus eine reine, moralische Grundidee
hat, aber sie begreifen noch nicht, daß diese besser, nützlicher
oder praktischer sein könnte, als die Jdeen, an die sie seit
ihrer Kindheit gewöhnt sind. Sie erkennen nicht, daß die
übliche herrschende Moral sie verhindert, die geistigen Ent-
wickelungshöhen der Menschheit zu erreichen.

Der Feminismus versucht sich mit der äußersten Grenze
der jetzigen Kultur zu vereinigen, er empört sich gegen
das Ueberlieferte, Zurückgebliebene, Entwachsene, das, von
den höchststehenden Menschen verworfen, doch noch die große
Masse beherrscht. Er unterscheidet sich von der herrschenden
Moral vor Allem dadurch, daß er den Menschen nicht als
ein von der Geburt durch Sünde verderbtes Wesen, als ein
Schadentier betrachtet, das in jeder Weise geknechtet, ge-
bunden, gequält und verunstaltet werden darf. Der
Feminismus ist nicht pessimistisch, er glaubt nicht an die
ewige Herrschaft der Not, sondern im Gegenteil an eine
lichte Zukunft; er glaubt, daß die Menschen in dem Grade
ihr Schicksal verbessern werden, wie ihr eigener Wille dazu
wächst, wenn auch ihre Vernunft noch nicht so groß ist,
daß sie sofort die richtigen Mittel und Wege finden. Die
Meisten unter uns stellen sich vor, daß die Menschheit noch
eine lange Zukunft zur Besserung vor sich habe. Es ist
auch schwer, etwas anderes zu glauben. Vielleicht ge-
schieht es trotzdem eines Tages, daß wir von der Erde
verschwinden, und daß dies das Ende unserer Arbeit und
Mühe ist. Wir können uns vorstellen, daß die Erde ruhig
ihren Lauf fortsetzt, ohne daß unser Geschlecht sie mit seiner
Gegenwart beehrt. Wir können uns Städte in Trümmern
unter Sand verschüttet, unbebaute Felder, Wälder und
Tiefen in wilder Schönheit vorstellen, Landschaften, die noch
nie eines Menschen Fuß betreten, wo nur Tiere, ein freies
Leben führend, umherstreifen.

Das Menschengeschlecht kann durch Seuchen oder
Natur-Revolutionen gänzlich vertilgt werden – das ist
wenigstens keine völlige Unmöglichkeit.

Es ist nicht zu leugnen, daß man eine gewisse Ruhe
bei dem Gedanken an solch ein Verschwinden empfindet. –
Das Weltall würde uns nicht vermissen!

Es hat aber vorläufig nicht den Anschein, als ob[Spaltenumbruch] die Menschheit sobald aufhören sollte. Die Hoffnung, daß
glücklichere Daseinsstufen kommen könnten, gibt auch Be-
friedigung. Und könnte nicht die Menschheit mit den ihr
innewohnenden Möglichkeiten sich einst ein herrliches Schicksal
erschaffen, statt wie eine Katze im Brunnen zu ertrinken?
Wie manche Wegstrecken hat sie schon zurückgelegt! Aus
ihrer Neugier hat sie die Wissenschaften erweckt, aus
ihrem Feingefühl die schönen Künste erschaffen, aus ihrer
Sehnsucht nach regelmäßigen Gewohnheiten die Moral gebildet. Jhr Schaffen steht noch in den Anfängen. Jn
Hinsicht auf Kultur ist sie noch sehr jung. Wie wird das
Werk werden? Niemand weiß es. Die Völker arbeiten
unermüdlich an einer Zivilisation, von deren Ausdehnungs-
möglichkeiten sie keine Ahnung haben. Auch die scharf-
sinnigsten Geister entdecken oft im Alter, daß die Ent-
wickelung eine ganz andere Richtung genommen hat, als
in ihren Absichten lag; oft stößt sie alle Berechnungen um.
Aber als allgemeines Urteil ist festzuhalten, daß die Be-
wegung dem Einzelnen Gelegenheit geben will, sich seiner
Jndividualität nach reich und harmonisch zu entwickeln.
Der Feminismus betrachtet die Wünsche und Leidenschaften
der Natur nicht als zerstörende Kräfte, die vernichtet werden
müssen, sondern als schöpferische, die entwickelt werden
sollen, um der Allgemeinheit Nutzen zu bringen. Der
Feminismus weist auf keinen zweifelhaften Himmel, sondern
auf eine unkultivierte Erde hin, aus der ein Himmel zu
schaffen wäre. – Die sogenannte herrschende Moral tut,
als ob sie das Gewissen achte und umgibt ihre Heuchelei
mit viel äußerem Pomp; sie herrscht aber mit Brutalität
und Tyrannei; sie ist antihuman und antisozial, weil sie
Bitterkeit und Haß zwischen dem Volk und den höheren
Ständen schürt. Die Moral des Feminismus ist human
und sozial; sie will die Entwickelung und Vervollkommnung
des Einzelnen und erkennt seinen Selbstzweck an; sie will
eine bessere Welt als Bedingung für den Bestand einer
glücklichen Menschheit. Die bestehende Moral betet die
Kraft an; sie ist kriechend und höflich gegen die Mächtigen
und Großen, hart und unbarmherzig gegen die Machtlosen
und Schwachen; sie billigt Alles, was gelingt – zuweilen sogar
die größten Verbrechen; sie ehrt Wappenschilder, Zeremonien
und Banknoten, – das ist die Dreieinigkeit, die sie sowohl
in der Häuslichkeit wie in der Kirche anbetet. Die Moral
des Feminismus hat nur das Streben eines ehrlichen Ge-
wissens; sie fällt verschiedene Urteile bei den verschiedenen
Graden der Verantwortung. Daher verzeiht sie denen, die
aus Unkenntnis und Not fehlen, und ist barmherzig gegen
diejenigen, die sich bemühen, ein begangenes Unrecht gut
zu machen. Anstatt der Macht verherrlicht sie die Ge-
rechtigkeit
, die Wahrheit und die Güte. Dadurch,
daß die herrschende Moral die Partei der der Starken gegen
die Schwachen vertritt, wird der Mann verleitet, das Weib
zu unterjochen; sie will den Zustand des Despotismus und
der Sklaverei zwischen ihnen erhalten. Zu diesem Zweck hat
sie versucht, dem Mann das Herz und der Frau den
Verstand zu rauben. Jeder Mensch ist ja physiologisch
gesprochen Kopf und Herz. Es liegt auf der Hand, daß
sie einen Ersatz für diese beiden Organe suchte. Jdeal
wäre es, wenn jeder Mensch sowohl Zartgefühl als auch
Jntelligenz besäße. Eine ganze volle Persönlichkeit!

Die herrschende Moral hat versucht, die ganze Fein-
fühligkeit der Frau und den ganzen Verstand dem Manne
zuzuweisen, und hat dadurch ihre geistigen Persönlichkeiten
einseitig stark entwickelt.

Dadurch entstand der bisherige Mangel an geistiger
Sympathie zwischen den Geschlechtern.

Oft ist die Frau mit einem nicht zartfühlenden Manne
unglücklich geworden, oft hat der Mann sich mit einer
Frau ohne Jntelligenz gelangweilt, und seine geistige Ge-
meinschaft wo anders gesucht. Der Feminismus will die
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Die Meisten unter uns stellen sich vor, daß die Menschheit noch eine lange Zukunft zur Besserung vor sich habe. Es ist auch schwer, etwas anderes zu glauben. Vielleicht ge- schieht es trotzdem eines Tages, daß wir von der Erde verschwinden, und daß dies das Ende unserer Arbeit und Mühe ist. Wir können uns vorstellen, daß die Erde ruhig ihren Lauf fortsetzt, ohne daß unser Geschlecht sie mit seiner Gegenwart beehrt. Wir können uns Städte in Trümmern unter Sand verschüttet, unbebaute Felder, Wälder und Tiefen in wilder Schönheit vorstellen, Landschaften, die noch nie eines Menschen Fuß betreten, wo nur Tiere, ein freies Leben führend, umherstreifen. Das Menschengeschlecht kann durch Seuchen oder Natur-Revolutionen gänzlich vertilgt werden – das ist wenigstens keine völlige Unmöglichkeit. Es ist nicht zu leugnen, daß man eine gewisse Ruhe bei dem Gedanken an solch ein Verschwinden empfindet. – Das Weltall würde uns nicht vermissen! 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Die Moral des Feminismus ist human und sozial; sie will die Entwickelung und Vervollkommnung des Einzelnen und erkennt seinen Selbstzweck an; sie will eine bessere Welt als Bedingung für den Bestand einer glücklichen Menschheit. Die bestehende Moral betet die Kraft an; sie ist kriechend und höflich gegen die Mächtigen und Großen, hart und unbarmherzig gegen die Machtlosen und Schwachen; sie billigt Alles, was gelingt – zuweilen sogar die größten Verbrechen; sie ehrt Wappenschilder, Zeremonien und Banknoten, – das ist die Dreieinigkeit, die sie sowohl in der Häuslichkeit wie in der Kirche anbetet. Die Moral des Feminismus hat nur das Streben eines ehrlichen Ge- wissens; sie fällt verschiedene Urteile bei den verschiedenen Graden der Verantwortung. Daher verzeiht sie denen, die aus Unkenntnis und Not fehlen, und ist barmherzig gegen diejenigen, die sich bemühen, ein begangenes Unrecht gut zu machen. Anstatt der Macht verherrlicht sie die Ge- rechtigkeit, die Wahrheit und die Güte. 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Oft ist die Frau mit einem nicht zartfühlenden Manne unglücklich geworden, oft hat der Mann sich mit einer Frau ohne Jntelligenz gelangweilt, und seine geistige Ge- meinschaft wo anders gesucht. Der Feminismus will die möglichst vollkommene Entwickelung jeder Persönlichkeit.

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Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Texte der ersten Frauenbewegung, betreut von Anna Pfundt und Thomas Gloning, JLU Gießen : Bereitstellung der Texttranskription. (2021-03-10T13:14:35Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Anna Pfundt, Juliane Nau: Bearbeitung der digitalen Edition. (2021-03-10T13:14:35Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: keine Angabe; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; i/j in Fraktur: keine Angabe; Kolumnentitel: keine Angabe; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: wie Vorlage; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




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Zitationshilfe: Stéenhof, Frieda: Die Moral des Feminismus. In: Ethische Kultur (1907). S. 106–109, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steenhof_moral_1907/1>, abgerufen am 29.03.2024.