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Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870.

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Elemente der Geschichte.

Das große System des Berufsbildungswesens, wie es sich im
Laufe der Jahrhunderte ausgebildet hat, ist das Ergebniß einer der
machtvollsten Arbeiten der Geschichte; das Verständniß desselben hat in
unserer Gegenwart einen neuen Inhalt gewonnen.

Jeder Beruf enthält stets eine höhere geistige Entwicklung des
Individuums. Es ist daher natürlich, daß die Berufsbildung stets die
entschiedene Neigung hat, eine Bildungsform der höheren Klassen
der Gesellschaft und eine der Grundlagen ihrer Herrschaft über die
niederen zu werden. Die Entwicklung der Freiheit greift nun diese
Thatsache an; ihr großes Ziel ist es, den Beruf mit seinem ethischen
Inhalt und seinem geistigen Besitzthum allen Klassen der Gesellschaft
gemeinsam zu machen -- nicht etwa die Berufsbildung an sich auf-
zuheben oder zu beschränken. Das ist das große Princip in der Ge-
schichte
des Berufsbildungswesens und der Standpunkt für die Beur-
theilung des Charakters desselben in jeder bestimmten Zeit und in jedem
Lande. Und aus ihm ergeben sich die leitenden Grundsätze, welche die
Entwicklung des Berufsbildungswesens als Aufgabe der über jedes
Sonderrecht und jedes Sonderinteresse erhabenen Staatsidee und ihrer
Verwirklichung in der inneren Verwaltung erfordern.

Der erste dieser leitenden Grundsätze in der Geschichte ist dem-
nach der, durch das Eingreifen der Verwaltung jeden Beruf für jeden
zugänglich zu machen; der zweite ist der, jeder Lebensaufgabe eine
selbständige Berufsbildung zu geben; der dritte ist der, jede selbstän-
dige Berufsbildung mit den Elementen der allgemeinen Bildung und
darin die höhere Einheit des geistigen Lebens für alle mit der vollsten
Entwicklung in jedem Theile zu verbinden. Das erste ist das sociale,
das zweite ist das wissenschaftliche, das dritte ist das ethische
Princip des Berufsbildungswesens. Und die Geschichte desselben im
höheren Sinne ist daher die allmählige Verwirklichung nicht bloß dieser
oder jener vollkommenen Berufsbildungsform, sondern der langsame,
aber sichere Sieg dieser drei großen Principien im Bildungswesen
Europa's, so daß erst durch sie das System des Berufsbildungswesens
in seiner ganzen, nicht mehr bloß formalen Bedeutung eben so ver-
ständlich wird, wie die Elemente der positiven Geschichte desselben.

Diese nun sind an sich einfach.

Die Geschlechterordnung kennt nur die Herrschaft der Geschlechter
über die Geschlechterlosen. Das Mittel dafür ist die Waffe und das
Gericht. Die Bildung ist daher in dieser Ordnung zuerst nur auf
die Glieder der herrschenden Geschlechter beschränkt, dann enthält sie

Elemente der Geſchichte.

Das große Syſtem des Berufsbildungsweſens, wie es ſich im
Laufe der Jahrhunderte ausgebildet hat, iſt das Ergebniß einer der
machtvollſten Arbeiten der Geſchichte; das Verſtändniß deſſelben hat in
unſerer Gegenwart einen neuen Inhalt gewonnen.

Jeder Beruf enthält ſtets eine höhere geiſtige Entwicklung des
Individuums. Es iſt daher natürlich, daß die Berufsbildung ſtets die
entſchiedene Neigung hat, eine Bildungsform der höheren Klaſſen
der Geſellſchaft und eine der Grundlagen ihrer Herrſchaft über die
niederen zu werden. Die Entwicklung der Freiheit greift nun dieſe
Thatſache an; ihr großes Ziel iſt es, den Beruf mit ſeinem ethiſchen
Inhalt und ſeinem geiſtigen Beſitzthum allen Klaſſen der Geſellſchaft
gemeinſam zu machen — nicht etwa die Berufsbildung an ſich auf-
zuheben oder zu beſchränken. Das iſt das große Princip in der Ge-
ſchichte
des Berufsbildungsweſens und der Standpunkt für die Beur-
theilung des Charakters deſſelben in jeder beſtimmten Zeit und in jedem
Lande. Und aus ihm ergeben ſich die leitenden Grundſätze, welche die
Entwicklung des Berufsbildungsweſens als Aufgabe der über jedes
Sonderrecht und jedes Sonderintereſſe erhabenen Staatsidee und ihrer
Verwirklichung in der inneren Verwaltung erfordern.

Der erſte dieſer leitenden Grundſätze in der Geſchichte iſt dem-
nach der, durch das Eingreifen der Verwaltung jeden Beruf für jeden
zugänglich zu machen; der zweite iſt der, jeder Lebensaufgabe eine
ſelbſtändige Berufsbildung zu geben; der dritte iſt der, jede ſelbſtän-
dige Berufsbildung mit den Elementen der allgemeinen Bildung und
darin die höhere Einheit des geiſtigen Lebens für alle mit der vollſten
Entwicklung in jedem Theile zu verbinden. Das erſte iſt das ſociale,
das zweite iſt das wiſſenſchaftliche, das dritte iſt das ethiſche
Princip des Berufsbildungsweſens. Und die Geſchichte deſſelben im
höheren Sinne iſt daher die allmählige Verwirklichung nicht bloß dieſer
oder jener vollkommenen Berufsbildungsform, ſondern der langſame,
aber ſichere Sieg dieſer drei großen Principien im Bildungsweſen
Europa’s, ſo daß erſt durch ſie das Syſtem des Berufsbildungsweſens
in ſeiner ganzen, nicht mehr bloß formalen Bedeutung eben ſo ver-
ſtändlich wird, wie die Elemente der poſitiven Geſchichte deſſelben.

Dieſe nun ſind an ſich einfach.

Die Geſchlechterordnung kennt nur die Herrſchaft der Geſchlechter
über die Geſchlechterloſen. Das Mittel dafür iſt die Waffe und das
Gericht. Die Bildung iſt daher in dieſer Ordnung zuerſt nur auf
die Glieder der herrſchenden Geſchlechter beſchränkt, dann enthält ſie

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[126/0150] Elemente der Geſchichte. Das große Syſtem des Berufsbildungsweſens, wie es ſich im Laufe der Jahrhunderte ausgebildet hat, iſt das Ergebniß einer der machtvollſten Arbeiten der Geſchichte; das Verſtändniß deſſelben hat in unſerer Gegenwart einen neuen Inhalt gewonnen. Jeder Beruf enthält ſtets eine höhere geiſtige Entwicklung des Individuums. Es iſt daher natürlich, daß die Berufsbildung ſtets die entſchiedene Neigung hat, eine Bildungsform der höheren Klaſſen der Geſellſchaft und eine der Grundlagen ihrer Herrſchaft über die niederen zu werden. Die Entwicklung der Freiheit greift nun dieſe Thatſache an; ihr großes Ziel iſt es, den Beruf mit ſeinem ethiſchen Inhalt und ſeinem geiſtigen Beſitzthum allen Klaſſen der Geſellſchaft gemeinſam zu machen — nicht etwa die Berufsbildung an ſich auf- zuheben oder zu beſchränken. Das iſt das große Princip in der Ge- ſchichte des Berufsbildungsweſens und der Standpunkt für die Beur- theilung des Charakters deſſelben in jeder beſtimmten Zeit und in jedem Lande. Und aus ihm ergeben ſich die leitenden Grundſätze, welche die Entwicklung des Berufsbildungsweſens als Aufgabe der über jedes Sonderrecht und jedes Sonderintereſſe erhabenen Staatsidee und ihrer Verwirklichung in der inneren Verwaltung erfordern. Der erſte dieſer leitenden Grundſätze in der Geſchichte iſt dem- nach der, durch das Eingreifen der Verwaltung jeden Beruf für jeden zugänglich zu machen; der zweite iſt der, jeder Lebensaufgabe eine ſelbſtändige Berufsbildung zu geben; der dritte iſt der, jede ſelbſtän- dige Berufsbildung mit den Elementen der allgemeinen Bildung und darin die höhere Einheit des geiſtigen Lebens für alle mit der vollſten Entwicklung in jedem Theile zu verbinden. Das erſte iſt das ſociale, das zweite iſt das wiſſenſchaftliche, das dritte iſt das ethiſche Princip des Berufsbildungsweſens. Und die Geſchichte deſſelben im höheren Sinne iſt daher die allmählige Verwirklichung nicht bloß dieſer oder jener vollkommenen Berufsbildungsform, ſondern der langſame, aber ſichere Sieg dieſer drei großen Principien im Bildungsweſen Europa’s, ſo daß erſt durch ſie das Syſtem des Berufsbildungsweſens in ſeiner ganzen, nicht mehr bloß formalen Bedeutung eben ſo ver- ſtändlich wird, wie die Elemente der poſitiven Geſchichte deſſelben. Dieſe nun ſind an ſich einfach. Die Geſchlechterordnung kennt nur die Herrſchaft der Geſchlechter über die Geſchlechterloſen. Das Mittel dafür iſt die Waffe und das Gericht. Die Bildung iſt daher in dieſer Ordnung zuerſt nur auf die Glieder der herrſchenden Geſchlechter beſchränkt, dann enthält ſie

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870, S. 126. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_handbuch_1870/150>, abgerufen am 24.04.2024.