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Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870.

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Und dadurch, daß der Staat dieß thut, entsteht das Rechtssystem der
Entwährung.

Denn das Wesen der Unverletzlichkeit der Persönlichkeit erscheint
darin, daß nie das ganze Recht Gegenstand der Entwährung sein kann;
sondern nur dasjenige, welches sich die Gemeinschaft ohne die Entwäh-
rung überhaupt nicht zu verschaffen im Stande ist. Das nun ist immer
nur das natürliche Element, die Sache, nie das persönliche, der Werth.
Das Rechtsprincip aller Entwährung ist daher die Rückstellung des
Werthes der Sache an den Entwährten, das ist die Entschädi-
gung
. Eine gesellschaftliche Gewaltthat ist eben nichts anderes, als
eine Entwährung ohne Entschädigung. Diese nun erscheint in der
ganzen Weltgeschichte stets da, wo sich ausschließlich die gesellschaftlichen
Classen gegenüber stehen. Erst wo der Staat im Königthum erscheint,
erscheint auch das Princip der Entschädigung und damit ein Recht der
Entwährung. Das System dieses Rechts wird dann gebildet durch
die Grundsätze, nach denen die Verwaltung des Staats bei der Ent-
währung zu verfahren hat. Erst mit diesem Rechtssystem tritt das
verfassungsmäßige Verwaltungsrecht an die Stelle der gesellschaftlichen
Gewaltthaten, welche die ganze alte Geschichte des Volkslebens erfüllen.

Der gesellschaftliche Lebensproceß Europas ist nun zuerst die Ent-
faltung der staatsbürgerlichen Gesellschaftsordnung mit ihren Principien
der Freiheit und Gleichheit, auch des wirthschaftlichen Lebens aus der
Geschlechter- und Ständeordnung; dann die Entwicklung der Thatsache
und der Gewalt der Gesammtinteressen gegenüber dem Einzelrecht. Aus
dem ersten Theile entstehen die Entlastungen, welche mit dem völ-
ligen Siege der freien Gesellschaft abschließen, und daher als historische
Erscheinung gelten müssen; aus dem zweiten die Enteignung, welche
der freien Gesellschaftsbildung angehören, daher erst in unserm Jahr-
hundert auftreten, und den dauernden Inhalt des Entwährungsrechts
bilden. Deßhalb hat man auch bisher in der Wissenschaft nur die
letzteren beachtet. Die größte Frage der wirthschaftlichen und damit der
gesellschaftlichen Zukunft Europas liegt aber in dem Ende dieses Pro-
cesses, dessen eigentliche Bedeutung uns erst durch die sociale Auf-
fassung des Enteignungsrechts erschlossen wird. Das Staatsnoth-
recht
endlich ist nur die zeitweilige Enteignung des Gebrauches einer
Sache und hat daher keine sociale, sondern nur eine administrative
Berechtigung.

I. Die Entlastungen.

Die Entlastungen gehen aus der Thatsache hervor, daß sowohl das
Geschlechter- als das Ständewesen die unfreie Ordnung des Grund-

Stein, Handbuch der Verwaltungslehre. 10

Und dadurch, daß der Staat dieß thut, entſteht das Rechtsſyſtem der
Entwährung.

Denn das Weſen der Unverletzlichkeit der Perſönlichkeit erſcheint
darin, daß nie das ganze Recht Gegenſtand der Entwährung ſein kann;
ſondern nur dasjenige, welches ſich die Gemeinſchaft ohne die Entwäh-
rung überhaupt nicht zu verſchaffen im Stande iſt. Das nun iſt immer
nur das natürliche Element, die Sache, nie das perſönliche, der Werth.
Das Rechtsprincip aller Entwährung iſt daher die Rückſtellung des
Werthes der Sache an den Entwährten, das iſt die Entſchädi-
gung
. Eine geſellſchaftliche Gewaltthat iſt eben nichts anderes, als
eine Entwährung ohne Entſchädigung. Dieſe nun erſcheint in der
ganzen Weltgeſchichte ſtets da, wo ſich ausſchließlich die geſellſchaftlichen
Claſſen gegenüber ſtehen. Erſt wo der Staat im Königthum erſcheint,
erſcheint auch das Princip der Entſchädigung und damit ein Recht der
Entwährung. Das Syſtem dieſes Rechts wird dann gebildet durch
die Grundſätze, nach denen die Verwaltung des Staats bei der Ent-
währung zu verfahren hat. Erſt mit dieſem Rechtsſyſtem tritt das
verfaſſungsmäßige Verwaltungsrecht an die Stelle der geſellſchaftlichen
Gewaltthaten, welche die ganze alte Geſchichte des Volkslebens erfüllen.

Der geſellſchaftliche Lebensproceß Europas iſt nun zuerſt die Ent-
faltung der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaftsordnung mit ihren Principien
der Freiheit und Gleichheit, auch des wirthſchaftlichen Lebens aus der
Geſchlechter- und Ständeordnung; dann die Entwicklung der Thatſache
und der Gewalt der Geſammtintereſſen gegenüber dem Einzelrecht. Aus
dem erſten Theile entſtehen die Entlaſtungen, welche mit dem völ-
ligen Siege der freien Geſellſchaft abſchließen, und daher als hiſtoriſche
Erſcheinung gelten müſſen; aus dem zweiten die Enteignung, welche
der freien Geſellſchaftsbildung angehören, daher erſt in unſerm Jahr-
hundert auftreten, und den dauernden Inhalt des Entwährungsrechts
bilden. Deßhalb hat man auch bisher in der Wiſſenſchaft nur die
letzteren beachtet. Die größte Frage der wirthſchaftlichen und damit der
geſellſchaftlichen Zukunft Europas liegt aber in dem Ende dieſes Pro-
ceſſes, deſſen eigentliche Bedeutung uns erſt durch die ſociale Auf-
faſſung des Enteignungsrechts erſchloſſen wird. Das Staatsnoth-
recht
endlich iſt nur die zeitweilige Enteignung des Gebrauches einer
Sache und hat daher keine ſociale, ſondern nur eine adminiſtrative
Berechtigung.

I. Die Entlaſtungen.

Die Entlaſtungen gehen aus der Thatſache hervor, daß ſowohl das
Geſchlechter- als das Ständeweſen die unfreie Ordnung des Grund-

Stein, Handbuch der Verwaltungslehre. 10
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[145/0169] Und dadurch, daß der Staat dieß thut, entſteht das Rechtsſyſtem der Entwährung. Denn das Weſen der Unverletzlichkeit der Perſönlichkeit erſcheint darin, daß nie das ganze Recht Gegenſtand der Entwährung ſein kann; ſondern nur dasjenige, welches ſich die Gemeinſchaft ohne die Entwäh- rung überhaupt nicht zu verſchaffen im Stande iſt. Das nun iſt immer nur das natürliche Element, die Sache, nie das perſönliche, der Werth. Das Rechtsprincip aller Entwährung iſt daher die Rückſtellung des Werthes der Sache an den Entwährten, das iſt die Entſchädi- gung. Eine geſellſchaftliche Gewaltthat iſt eben nichts anderes, als eine Entwährung ohne Entſchädigung. Dieſe nun erſcheint in der ganzen Weltgeſchichte ſtets da, wo ſich ausſchließlich die geſellſchaftlichen Claſſen gegenüber ſtehen. Erſt wo der Staat im Königthum erſcheint, erſcheint auch das Princip der Entſchädigung und damit ein Recht der Entwährung. Das Syſtem dieſes Rechts wird dann gebildet durch die Grundſätze, nach denen die Verwaltung des Staats bei der Ent- währung zu verfahren hat. Erſt mit dieſem Rechtsſyſtem tritt das verfaſſungsmäßige Verwaltungsrecht an die Stelle der geſellſchaftlichen Gewaltthaten, welche die ganze alte Geſchichte des Volkslebens erfüllen. Der geſellſchaftliche Lebensproceß Europas iſt nun zuerſt die Ent- faltung der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaftsordnung mit ihren Principien der Freiheit und Gleichheit, auch des wirthſchaftlichen Lebens aus der Geſchlechter- und Ständeordnung; dann die Entwicklung der Thatſache und der Gewalt der Geſammtintereſſen gegenüber dem Einzelrecht. Aus dem erſten Theile entſtehen die Entlaſtungen, welche mit dem völ- ligen Siege der freien Geſellſchaft abſchließen, und daher als hiſtoriſche Erſcheinung gelten müſſen; aus dem zweiten die Enteignung, welche der freien Geſellſchaftsbildung angehören, daher erſt in unſerm Jahr- hundert auftreten, und den dauernden Inhalt des Entwährungsrechts bilden. Deßhalb hat man auch bisher in der Wiſſenſchaft nur die letzteren beachtet. Die größte Frage der wirthſchaftlichen und damit der geſellſchaftlichen Zukunft Europas liegt aber in dem Ende dieſes Pro- ceſſes, deſſen eigentliche Bedeutung uns erſt durch die ſociale Auf- faſſung des Enteignungsrechts erſchloſſen wird. Das Staatsnoth- recht endlich iſt nur die zeitweilige Enteignung des Gebrauches einer Sache und hat daher keine ſociale, ſondern nur eine adminiſtrative Berechtigung. I. Die Entlaſtungen. Die Entlaſtungen gehen aus der Thatſache hervor, daß ſowohl das Geſchlechter- als das Ständeweſen die unfreie Ordnung des Grund- Stein, Handbuch der Verwaltungslehre. 10

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870, S. 145. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_handbuch_1870/169>, abgerufen am 29.03.2024.