Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870.

Bild:
<< vorherige Seite

wirthschaftliche Reichthum als solcher, sondern die lebendige und freie
Bewegung, welche ihn für jedes Mitglied der Gesellschaft erreichbar
macht, ist das Wohlsein des Volkes. Diesem höchsten Lebensprincip
der Gesellschaft aber tritt nun das Interesse der höheren Classen ent-
gegen; es arbeitet in seiner Weise; denn nicht das Viel oder Wenig
was die Einzelnen besitzen, sondern der Unterschied unter ihnen
ist die höchste Befriedigung des Einzelnen; und diesen aufrecht zu halten
strebt das Interesse, das somit zum unversöhnlichen Feinde der Freiheit
zu werden bestimmt scheint. Hier liegt der tiefste Widerspruch im Leben
der Menschheit; und hier ist daher auch der Punkt, wo der Staat als
höchste persönliche Form derselben in die Gesellschaft hineingreift; und
die daraus entstehenden, mit dem obigen Wesen der letzteren auf das
Innigste zusammenhängenden Aufgaben dieses staatlichen Lebens sind
es, welche die Principien und den Inhalt der Verwaltung der
Gesellschaft
bilden.

Die gesellschaftliche Verwaltung.
Die Principien derselben.

Ist dem nämlich so, so ergeben sich in einfacher Weise die zwei
Grundgedanken, welche das Verhalten des Staats zur Gesellschaft und
ihrer Bewegung enthalten.

Zuerst steht fest, daß der Staat weder die Gesellschaft bilden,
noch die gebildete Ordnung durch seine Macht leiten kann. Die gesell-
schaftlichen Ordnungen und Erscheinungen bilden sich selbst, wie die
Ordnungen und Erscheinungen der Volkswirthschaft; sie leben nach ihren
eigenen Gesetzen, die unabänderlich ihren Weg gehen; es ist nicht minder
unverständig, auf die sociale Gestaltung einen unmittelbaren Einfluß
nehmen zu wollen, als auf die Gesetze nach denen Werth und Preis sich
richten. Alsdann aber fragt es sich, wozu denn der Staat auf diesem
Gebiete berufen ist.

Das nun ist einfach, sowie man den Begriff der gesellschaftlichen
Entwicklung, wie sie in dem Begriffe der aufsteigenden Classenbewegung
liegt, festhält. Der Staat kann und soll diese Entwicklung und Be-
wegung nicht selbst erzeugen, denn sie soll durch und für das freie
Individuum vor sich gehen; aber er soll die Bedingungen herstellen,
welche der Einzelne in der gegebenen gesellschaftlichen Ordnung sich
durch eigene Kraft nicht mehr schaffen kann, um aus der niederen
in die höhere Classe hinaufzusteigen. Das große Princip der
persönlichen Selbstbestimmung fordert, daß der Staat mit seiner Thätig-
keit immer erst da beginne, wo die Kraft des Einzelnen ihrem Wesen

wirthſchaftliche Reichthum als ſolcher, ſondern die lebendige und freie
Bewegung, welche ihn für jedes Mitglied der Geſellſchaft erreichbar
macht, iſt das Wohlſein des Volkes. Dieſem höchſten Lebensprincip
der Geſellſchaft aber tritt nun das Intereſſe der höheren Claſſen ent-
gegen; es arbeitet in ſeiner Weiſe; denn nicht das Viel oder Wenig
was die Einzelnen beſitzen, ſondern der Unterſchied unter ihnen
iſt die höchſte Befriedigung des Einzelnen; und dieſen aufrecht zu halten
ſtrebt das Intereſſe, das ſomit zum unverſöhnlichen Feinde der Freiheit
zu werden beſtimmt ſcheint. Hier liegt der tiefſte Widerſpruch im Leben
der Menſchheit; und hier iſt daher auch der Punkt, wo der Staat als
höchſte perſönliche Form derſelben in die Geſellſchaft hineingreift; und
die daraus entſtehenden, mit dem obigen Weſen der letzteren auf das
Innigſte zuſammenhängenden Aufgaben dieſes ſtaatlichen Lebens ſind
es, welche die Principien und den Inhalt der Verwaltung der
Geſellſchaft
bilden.

Die geſellſchaftliche Verwaltung.
Die Principien derſelben.

Iſt dem nämlich ſo, ſo ergeben ſich in einfacher Weiſe die zwei
Grundgedanken, welche das Verhalten des Staats zur Geſellſchaft und
ihrer Bewegung enthalten.

Zuerſt ſteht feſt, daß der Staat weder die Geſellſchaft bilden,
noch die gebildete Ordnung durch ſeine Macht leiten kann. Die geſell-
ſchaftlichen Ordnungen und Erſcheinungen bilden ſich ſelbſt, wie die
Ordnungen und Erſcheinungen der Volkswirthſchaft; ſie leben nach ihren
eigenen Geſetzen, die unabänderlich ihren Weg gehen; es iſt nicht minder
unverſtändig, auf die ſociale Geſtaltung einen unmittelbaren Einfluß
nehmen zu wollen, als auf die Geſetze nach denen Werth und Preis ſich
richten. Alsdann aber fragt es ſich, wozu denn der Staat auf dieſem
Gebiete berufen iſt.

Das nun iſt einfach, ſowie man den Begriff der geſellſchaftlichen
Entwicklung, wie ſie in dem Begriffe der aufſteigenden Claſſenbewegung
liegt, feſthält. Der Staat kann und ſoll dieſe Entwicklung und Be-
wegung nicht ſelbſt erzeugen, denn ſie ſoll durch und für das freie
Individuum vor ſich gehen; aber er ſoll die Bedingungen herſtellen,
welche der Einzelne in der gegebenen geſellſchaftlichen Ordnung ſich
durch eigene Kraft nicht mehr ſchaffen kann, um aus der niederen
in die höhere Claſſe hinaufzuſteigen. Das große Princip der
perſönlichen Selbſtbeſtimmung fordert, daß der Staat mit ſeiner Thätig-
keit immer erſt da beginne, wo die Kraft des Einzelnen ihrem Weſen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0424" n="400"/>
wirth&#x017F;chaftliche Reichthum als &#x017F;olcher, &#x017F;ondern die lebendige und freie<lb/>
Bewegung, welche ihn für jedes Mitglied der Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft erreichbar<lb/>
macht, i&#x017F;t das Wohl&#x017F;ein des Volkes. Die&#x017F;em höch&#x017F;ten Lebensprincip<lb/>
der Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft aber tritt nun das Intere&#x017F;&#x017F;e der höheren Cla&#x017F;&#x017F;en ent-<lb/>
gegen; es arbeitet in &#x017F;einer Wei&#x017F;e; denn nicht das Viel oder Wenig<lb/>
was die Einzelnen be&#x017F;itzen, &#x017F;ondern <hi rendition="#g">der Unter&#x017F;chied unter ihnen</hi><lb/>
i&#x017F;t die höch&#x017F;te Befriedigung des Einzelnen; und die&#x017F;en aufrecht zu halten<lb/>
&#x017F;trebt das Intere&#x017F;&#x017F;e, das &#x017F;omit zum unver&#x017F;öhnlichen Feinde der Freiheit<lb/>
zu werden be&#x017F;timmt &#x017F;cheint. Hier liegt der tief&#x017F;te Wider&#x017F;pruch im Leben<lb/>
der Men&#x017F;chheit; und hier i&#x017F;t daher auch der Punkt, wo der Staat als<lb/>
höch&#x017F;te per&#x017F;önliche Form der&#x017F;elben in die Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft hineingreift; und<lb/>
die daraus ent&#x017F;tehenden, mit dem obigen We&#x017F;en der letzteren auf das<lb/>
Innig&#x017F;te zu&#x017F;ammenhängenden Aufgaben die&#x017F;es &#x017F;taatlichen Lebens &#x017F;ind<lb/>
es, welche die Principien und den Inhalt der <hi rendition="#g">Verwaltung der<lb/>
Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft</hi> bilden.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#b">Die ge&#x017F;ell&#x017F;chaftliche Verwaltung.</hi> </head><lb/>
            <div n="4">
              <head> <hi rendition="#b">Die Principien der&#x017F;elben.</hi> </head><lb/>
              <p>I&#x017F;t dem nämlich &#x017F;o, &#x017F;o ergeben &#x017F;ich in einfacher Wei&#x017F;e die zwei<lb/>
Grundgedanken, welche das Verhalten des Staats zur Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft und<lb/>
ihrer Bewegung enthalten.</p><lb/>
              <p><hi rendition="#g">Zuer&#x017F;t</hi> &#x017F;teht fe&#x017F;t, daß der Staat weder die Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft bilden,<lb/>
noch die gebildete Ordnung durch &#x017F;eine Macht leiten kann. Die ge&#x017F;ell-<lb/>
&#x017F;chaftlichen Ordnungen und Er&#x017F;cheinungen bilden &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t, wie die<lb/>
Ordnungen und Er&#x017F;cheinungen der Volkswirth&#x017F;chaft; &#x017F;ie leben nach ihren<lb/>
eigenen Ge&#x017F;etzen, die unabänderlich ihren Weg gehen; es i&#x017F;t nicht minder<lb/>
unver&#x017F;tändig, auf die &#x017F;ociale Ge&#x017F;taltung einen unmittelbaren Einfluß<lb/>
nehmen zu wollen, als auf die Ge&#x017F;etze nach denen Werth und Preis &#x017F;ich<lb/>
richten. Alsdann aber fragt es &#x017F;ich, wozu denn der Staat auf die&#x017F;em<lb/>
Gebiete berufen i&#x017F;t.</p><lb/>
              <p>Das nun i&#x017F;t einfach, &#x017F;owie man den Begriff der ge&#x017F;ell&#x017F;chaftlichen<lb/>
Entwicklung, wie &#x017F;ie in dem Begriffe der auf&#x017F;teigenden Cla&#x017F;&#x017F;enbewegung<lb/>
liegt, fe&#x017F;thält. Der Staat kann und &#x017F;oll die&#x017F;e Entwicklung und Be-<lb/>
wegung nicht &#x017F;elb&#x017F;t erzeugen, denn &#x017F;ie &#x017F;oll durch und für das freie<lb/>
Individuum vor &#x017F;ich gehen; aber er &#x017F;oll die <hi rendition="#g">Bedingungen</hi> her&#x017F;tellen,<lb/>
welche der Einzelne in der gegebenen ge&#x017F;ell&#x017F;chaftlichen Ordnung &#x017F;ich<lb/>
durch eigene Kraft <hi rendition="#g">nicht mehr &#x017F;chaffen</hi> kann, um aus der niederen<lb/>
in die höhere Cla&#x017F;&#x017F;e <hi rendition="#g">hinaufzu&#x017F;teigen</hi>. Das große Princip der<lb/>
per&#x017F;önlichen Selb&#x017F;tbe&#x017F;timmung fordert, daß der Staat mit &#x017F;einer Thätig-<lb/>
keit immer er&#x017F;t <hi rendition="#g">da</hi> beginne, wo die Kraft des Einzelnen ihrem <hi rendition="#g">We&#x017F;en</hi><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[400/0424] wirthſchaftliche Reichthum als ſolcher, ſondern die lebendige und freie Bewegung, welche ihn für jedes Mitglied der Geſellſchaft erreichbar macht, iſt das Wohlſein des Volkes. Dieſem höchſten Lebensprincip der Geſellſchaft aber tritt nun das Intereſſe der höheren Claſſen ent- gegen; es arbeitet in ſeiner Weiſe; denn nicht das Viel oder Wenig was die Einzelnen beſitzen, ſondern der Unterſchied unter ihnen iſt die höchſte Befriedigung des Einzelnen; und dieſen aufrecht zu halten ſtrebt das Intereſſe, das ſomit zum unverſöhnlichen Feinde der Freiheit zu werden beſtimmt ſcheint. Hier liegt der tiefſte Widerſpruch im Leben der Menſchheit; und hier iſt daher auch der Punkt, wo der Staat als höchſte perſönliche Form derſelben in die Geſellſchaft hineingreift; und die daraus entſtehenden, mit dem obigen Weſen der letzteren auf das Innigſte zuſammenhängenden Aufgaben dieſes ſtaatlichen Lebens ſind es, welche die Principien und den Inhalt der Verwaltung der Geſellſchaft bilden. Die geſellſchaftliche Verwaltung. Die Principien derſelben. Iſt dem nämlich ſo, ſo ergeben ſich in einfacher Weiſe die zwei Grundgedanken, welche das Verhalten des Staats zur Geſellſchaft und ihrer Bewegung enthalten. Zuerſt ſteht feſt, daß der Staat weder die Geſellſchaft bilden, noch die gebildete Ordnung durch ſeine Macht leiten kann. Die geſell- ſchaftlichen Ordnungen und Erſcheinungen bilden ſich ſelbſt, wie die Ordnungen und Erſcheinungen der Volkswirthſchaft; ſie leben nach ihren eigenen Geſetzen, die unabänderlich ihren Weg gehen; es iſt nicht minder unverſtändig, auf die ſociale Geſtaltung einen unmittelbaren Einfluß nehmen zu wollen, als auf die Geſetze nach denen Werth und Preis ſich richten. Alsdann aber fragt es ſich, wozu denn der Staat auf dieſem Gebiete berufen iſt. Das nun iſt einfach, ſowie man den Begriff der geſellſchaftlichen Entwicklung, wie ſie in dem Begriffe der aufſteigenden Claſſenbewegung liegt, feſthält. Der Staat kann und ſoll dieſe Entwicklung und Be- wegung nicht ſelbſt erzeugen, denn ſie ſoll durch und für das freie Individuum vor ſich gehen; aber er ſoll die Bedingungen herſtellen, welche der Einzelne in der gegebenen geſellſchaftlichen Ordnung ſich durch eigene Kraft nicht mehr ſchaffen kann, um aus der niederen in die höhere Claſſe hinaufzuſteigen. Das große Princip der perſönlichen Selbſtbeſtimmung fordert, daß der Staat mit ſeiner Thätig- keit immer erſt da beginne, wo die Kraft des Einzelnen ihrem Weſen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_handbuch_1870
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_handbuch_1870/424
Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870, S. 400. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_handbuch_1870/424>, abgerufen am 24.04.2024.