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Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870.

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um der Noth abzuhelfen. Die Hülfe gegen die Nothzustände als domi-
nirendes Element der Gesellschaft ist daher ihrem Wesen nach, und
demgemäß auch thatsächlich stets eine der großen Angelegenheiten der
Gemeinschaft gewesen. Die Abhülfe der Noth ist demnach eine der
großen Aufgaben der Verwaltung. Das ist so und ist gewesen, so
lange es eine Gemeinschaft gegeben hat.

Aber so wie das der Fall ist, verlieren auch Begriff und Gränzen
der Noth ihren individuellen Charakter. Es kann einerseits die Hülfe
durch den Einzelnen für Einzelne überhaupt nicht viel mehr helfen;
es kann zweitens nicht mehr dem Einzelnen überlassen werden, ein-
seitig und für sich das Dasein einer Noth zu erklären und somit die
Hülfe des Ganzen aufzurufen; es kann endlich diese Hülfe des Ganzen
nicht mehr bei dem allgemeinen Gedanken einer helfenden Thätigkeit
stehen bleiben. So wie die Verwaltung als helfende Macht eintritt,
und die Hülfe gegen die Noth als ihre Pflicht erkennt, so wie sich
also eine Verwaltungsthätigkeit entwickelt, so bedarf es für dieselbe
eines alle Fälle der Noth gleichmäßig umfassenden Princips, es
bedarf eines die einzelnen Verhältnisse je nach ihrer Besonderheit ver-
stehenden und behandelnden Systems, und es bedarf endlich eines
eigenen und selbstthätigen Organismus. Und die organische Dar-
stellung dieses Ganzen bildet dann die Lehre von der Verwaltung der
gesellschaftlichen Noth, die wir auch nach ihrem Haupttheile das Armen-
wesen
nennen.

Offenbar nun ist, so wie sich das Ganze zu einem solchen organi-
schen System verschiedener Aufgaben ausbildet, zuerst nothwendig, die
Einheit der letzteren in dem gemeinsamen Princip für alle ihre
Zweige aufzustellen. Dieß Princip ist die einfache Anwendung des
höchsten Princips aller Verwaltung auf die Nothzustände des Einzelnen
wie des Ganzen.

Auch in der Noth bleibt die freie Persönlichkeit. Ihr innerstes
Wesen ist vernichtet, wenn man ihr gibt, was sie selbst erwerben kann.
Alle Hülfe soll daher erst da beginnen, wo die Unmöglichkeit für
den Einzelnen vorliegt
, sich durch eigene Kraft zu helfen; sie soll
nur so weit gehen, als diese Unmöglichkeit geht, und mit der Fähig-
keit zur Selbsthülfe aufhalten. Ob aber eine solche Unfähigkeit in
der Persönlichkeit selbst liegt, und wie weit sie geht, das kann, wo es
sich um die Aufgabe der Verwaltung handelt, auch nicht mehr das
Gefühl über die Meinung des Einzelnen beurtheilen, sondern nur die
Verwaltung selbst. Um aber andererseits zu wissen, was sie gegen-
über dieser Noth zu thun hat, muß sie selbst die Besonderheiten in
dem allgemeinen Begriff der Noth selbständig betrachten. Dem System

um der Noth abzuhelfen. Die Hülfe gegen die Nothzuſtände als domi-
nirendes Element der Geſellſchaft iſt daher ihrem Weſen nach, und
demgemäß auch thatſächlich ſtets eine der großen Angelegenheiten der
Gemeinſchaft geweſen. Die Abhülfe der Noth iſt demnach eine der
großen Aufgaben der Verwaltung. Das iſt ſo und iſt geweſen, ſo
lange es eine Gemeinſchaft gegeben hat.

Aber ſo wie das der Fall iſt, verlieren auch Begriff und Gränzen
der Noth ihren individuellen Charakter. Es kann einerſeits die Hülfe
durch den Einzelnen für Einzelne überhaupt nicht viel mehr helfen;
es kann zweitens nicht mehr dem Einzelnen überlaſſen werden, ein-
ſeitig und für ſich das Daſein einer Noth zu erklären und ſomit die
Hülfe des Ganzen aufzurufen; es kann endlich dieſe Hülfe des Ganzen
nicht mehr bei dem allgemeinen Gedanken einer helfenden Thätigkeit
ſtehen bleiben. So wie die Verwaltung als helfende Macht eintritt,
und die Hülfe gegen die Noth als ihre Pflicht erkennt, ſo wie ſich
alſo eine Verwaltungsthätigkeit entwickelt, ſo bedarf es für dieſelbe
eines alle Fälle der Noth gleichmäßig umfaſſenden Princips, es
bedarf eines die einzelnen Verhältniſſe je nach ihrer Beſonderheit ver-
ſtehenden und behandelnden Syſtems, und es bedarf endlich eines
eigenen und ſelbſtthätigen Organismus. Und die organiſche Dar-
ſtellung dieſes Ganzen bildet dann die Lehre von der Verwaltung der
geſellſchaftlichen Noth, die wir auch nach ihrem Haupttheile das Armen-
weſen
nennen.

Offenbar nun iſt, ſo wie ſich das Ganze zu einem ſolchen organi-
ſchen Syſtem verſchiedener Aufgaben ausbildet, zuerſt nothwendig, die
Einheit der letzteren in dem gemeinſamen Princip für alle ihre
Zweige aufzuſtellen. Dieß Princip iſt die einfache Anwendung des
höchſten Princips aller Verwaltung auf die Nothzuſtände des Einzelnen
wie des Ganzen.

Auch in der Noth bleibt die freie Perſönlichkeit. Ihr innerſtes
Weſen iſt vernichtet, wenn man ihr gibt, was ſie ſelbſt erwerben kann.
Alle Hülfe ſoll daher erſt da beginnen, wo die Unmöglichkeit für
den Einzelnen vorliegt
, ſich durch eigene Kraft zu helfen; ſie ſoll
nur ſo weit gehen, als dieſe Unmöglichkeit geht, und mit der Fähig-
keit zur Selbſthülfe aufhalten. Ob aber eine ſolche Unfähigkeit in
der Perſönlichkeit ſelbſt liegt, und wie weit ſie geht, das kann, wo es
ſich um die Aufgabe der Verwaltung handelt, auch nicht mehr das
Gefühl über die Meinung des Einzelnen beurtheilen, ſondern nur die
Verwaltung ſelbſt. Um aber andererſeits zu wiſſen, was ſie gegen-
über dieſer Noth zu thun hat, muß ſie ſelbſt die Beſonderheiten in
dem allgemeinen Begriff der Noth ſelbſtändig betrachten. Dem Syſtem

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[412/0436] um der Noth abzuhelfen. Die Hülfe gegen die Nothzuſtände als domi- nirendes Element der Geſellſchaft iſt daher ihrem Weſen nach, und demgemäß auch thatſächlich ſtets eine der großen Angelegenheiten der Gemeinſchaft geweſen. Die Abhülfe der Noth iſt demnach eine der großen Aufgaben der Verwaltung. Das iſt ſo und iſt geweſen, ſo lange es eine Gemeinſchaft gegeben hat. Aber ſo wie das der Fall iſt, verlieren auch Begriff und Gränzen der Noth ihren individuellen Charakter. Es kann einerſeits die Hülfe durch den Einzelnen für Einzelne überhaupt nicht viel mehr helfen; es kann zweitens nicht mehr dem Einzelnen überlaſſen werden, ein- ſeitig und für ſich das Daſein einer Noth zu erklären und ſomit die Hülfe des Ganzen aufzurufen; es kann endlich dieſe Hülfe des Ganzen nicht mehr bei dem allgemeinen Gedanken einer helfenden Thätigkeit ſtehen bleiben. So wie die Verwaltung als helfende Macht eintritt, und die Hülfe gegen die Noth als ihre Pflicht erkennt, ſo wie ſich alſo eine Verwaltungsthätigkeit entwickelt, ſo bedarf es für dieſelbe eines alle Fälle der Noth gleichmäßig umfaſſenden Princips, es bedarf eines die einzelnen Verhältniſſe je nach ihrer Beſonderheit ver- ſtehenden und behandelnden Syſtems, und es bedarf endlich eines eigenen und ſelbſtthätigen Organismus. Und die organiſche Dar- ſtellung dieſes Ganzen bildet dann die Lehre von der Verwaltung der geſellſchaftlichen Noth, die wir auch nach ihrem Haupttheile das Armen- weſen nennen. Offenbar nun iſt, ſo wie ſich das Ganze zu einem ſolchen organi- ſchen Syſtem verſchiedener Aufgaben ausbildet, zuerſt nothwendig, die Einheit der letzteren in dem gemeinſamen Princip für alle ihre Zweige aufzuſtellen. Dieß Princip iſt die einfache Anwendung des höchſten Princips aller Verwaltung auf die Nothzuſtände des Einzelnen wie des Ganzen. Auch in der Noth bleibt die freie Perſönlichkeit. Ihr innerſtes Weſen iſt vernichtet, wenn man ihr gibt, was ſie ſelbſt erwerben kann. Alle Hülfe ſoll daher erſt da beginnen, wo die Unmöglichkeit für den Einzelnen vorliegt, ſich durch eigene Kraft zu helfen; ſie ſoll nur ſo weit gehen, als dieſe Unmöglichkeit geht, und mit der Fähig- keit zur Selbſthülfe aufhalten. Ob aber eine ſolche Unfähigkeit in der Perſönlichkeit ſelbſt liegt, und wie weit ſie geht, das kann, wo es ſich um die Aufgabe der Verwaltung handelt, auch nicht mehr das Gefühl über die Meinung des Einzelnen beurtheilen, ſondern nur die Verwaltung ſelbſt. Um aber andererſeits zu wiſſen, was ſie gegen- über dieſer Noth zu thun hat, muß ſie ſelbſt die Beſonderheiten in dem allgemeinen Begriff der Noth ſelbſtändig betrachten. Dem Syſtem

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870, S. 412. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_handbuch_1870/436>, abgerufen am 29.03.2024.