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Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870.

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Elemente der Geschichte der socialen Verwaltung.

Es ist kein Zweifel, daß es einen Classengegensatz in allen Zeiten
der Geschichte und in allen Gesellschaftsordnungen gegeben hat. Allein
diese Gegensätze haben in der Geschlechter- wie in der Ständeordnung
einen wesentlich von der Gegenwart verschiedenen Charakter. Denn
der aufsteigenden Bewegung stand in beiden nicht der Mangel des
Capitals entgegen, sondern der Mangel des Rechts, dasselbe zu er-
werben. Der Widerspruch dagegen wird daher nicht zu einem Gegen-
satz zwischen Capital und Arbeit, sondern zu einem Gegensatz der
niederen Classe gegen das Recht der höheren, und der Kampf, der
sich daraus entwickelt, wird damit zu einem Kampfe gegen die ganze
gesellschaftliche Rechtsordnung. Erst wo diese gestürzt, und die Freiheit
der Gesellschaft hergestellt ist, beginnt die große, positive Epoche der
gesellschaftlichen Bewegung unserer Gegenwart und der Zukunft
Europas
. Denn wir stehen erst im Beginne dessen, was sich hier
entwickeln und bilden will.

In dieser Bewegung lassen sich nun drei große Grundformen
scheiden, deren feste Bestimmung als die Basis des Urtheils auch über
das Kommende angesehen werden muß.

Die erste dieser Grundformen beginnt im vorigen Jahrhundert fast
gleichzeitig mit dem Siege der staatsbürgerlichen Gesellschaft über die
Unfreiheit der Geschlechter- und Ständeordnung. Ihre Grundlage ist eine
doppelte. Einerseits beruht sie auf dem großen Princip der Gleichheit
in Recht und Bestimmung aller Persönlichkeit; andererseits auf der nicht
minder großen Thatsache des Entstehens der capitallosen Arbeitskraft,
die sich durch die Industrie über ganz Europa ausbreitet, und durch die
Städte an einzelnen Orten zu der gewaltigen erwerb- und capitallosen
gesellschaftlichen Gestaltung des Pauperismus zusammenballt. Die
geistige Bewegung, die das obige Princip in dieser Thatsache erzeugt,
bringt die arbeitende Classe zunächst zum Bewußtsein ihrer Selbständig-
keit und zu der Forderung, an dem Capital Theil zu nehmen, das sie
durch ihre Arbeit zuerst geschaffen zu haben meint. Es entsteht das
erste Nachdenken über die gesellschaftliche Bedeutung des Capitals
neben der Erkenntniß seiner wirthschaftlichen Funktion und Macht.
Die Ergebnisse dieses Nachdenkens sind die beiden großen Erscheinungen,
die wir den Communismus und den Socialismus nennen. Das
Princip des ersten ist die Negation des Capitals und mit ihm des
Eigenthums überhaupt, das des zweiten eine noch unpraktisch gedachte
Unterordnung, das desselben unter die Arbeit. Es sind die ersten
Strahlen, welche die neue Zeit auf ein bisher noch nie durchforschtes

Elemente der Geſchichte der ſocialen Verwaltung.

Es iſt kein Zweifel, daß es einen Claſſengegenſatz in allen Zeiten
der Geſchichte und in allen Geſellſchaftsordnungen gegeben hat. Allein
dieſe Gegenſätze haben in der Geſchlechter- wie in der Ständeordnung
einen weſentlich von der Gegenwart verſchiedenen Charakter. Denn
der aufſteigenden Bewegung ſtand in beiden nicht der Mangel des
Capitals entgegen, ſondern der Mangel des Rechts, daſſelbe zu er-
werben. Der Widerſpruch dagegen wird daher nicht zu einem Gegen-
ſatz zwiſchen Capital und Arbeit, ſondern zu einem Gegenſatz der
niederen Claſſe gegen das Recht der höheren, und der Kampf, der
ſich daraus entwickelt, wird damit zu einem Kampfe gegen die ganze
geſellſchaftliche Rechtsordnung. Erſt wo dieſe geſtürzt, und die Freiheit
der Geſellſchaft hergeſtellt iſt, beginnt die große, poſitive Epoche der
geſellſchaftlichen Bewegung unſerer Gegenwart und der Zukunft
Europas
. Denn wir ſtehen erſt im Beginne deſſen, was ſich hier
entwickeln und bilden will.

In dieſer Bewegung laſſen ſich nun drei große Grundformen
ſcheiden, deren feſte Beſtimmung als die Baſis des Urtheils auch über
das Kommende angeſehen werden muß.

Die erſte dieſer Grundformen beginnt im vorigen Jahrhundert faſt
gleichzeitig mit dem Siege der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft über die
Unfreiheit der Geſchlechter- und Ständeordnung. Ihre Grundlage iſt eine
doppelte. Einerſeits beruht ſie auf dem großen Princip der Gleichheit
in Recht und Beſtimmung aller Perſönlichkeit; andererſeits auf der nicht
minder großen Thatſache des Entſtehens der capitalloſen Arbeitskraft,
die ſich durch die Induſtrie über ganz Europa ausbreitet, und durch die
Städte an einzelnen Orten zu der gewaltigen erwerb- und capitalloſen
geſellſchaftlichen Geſtaltung des Pauperismus zuſammenballt. Die
geiſtige Bewegung, die das obige Princip in dieſer Thatſache erzeugt,
bringt die arbeitende Claſſe zunächſt zum Bewußtſein ihrer Selbſtändig-
keit und zu der Forderung, an dem Capital Theil zu nehmen, das ſie
durch ihre Arbeit zuerſt geſchaffen zu haben meint. Es entſteht das
erſte Nachdenken über die geſellſchaftliche Bedeutung des Capitals
neben der Erkenntniß ſeiner wirthſchaftlichen Funktion und Macht.
Die Ergebniſſe dieſes Nachdenkens ſind die beiden großen Erſcheinungen,
die wir den Communismus und den Socialismus nennen. Das
Princip des erſten iſt die Negation des Capitals und mit ihm des
Eigenthums überhaupt, das des zweiten eine noch unpraktiſch gedachte
Unterordnung, das deſſelben unter die Arbeit. Es ſind die erſten
Strahlen, welche die neue Zeit auf ein bisher noch nie durchforſchtes

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[442/0466] Elemente der Geſchichte der ſocialen Verwaltung. Es iſt kein Zweifel, daß es einen Claſſengegenſatz in allen Zeiten der Geſchichte und in allen Geſellſchaftsordnungen gegeben hat. Allein dieſe Gegenſätze haben in der Geſchlechter- wie in der Ständeordnung einen weſentlich von der Gegenwart verſchiedenen Charakter. Denn der aufſteigenden Bewegung ſtand in beiden nicht der Mangel des Capitals entgegen, ſondern der Mangel des Rechts, daſſelbe zu er- werben. Der Widerſpruch dagegen wird daher nicht zu einem Gegen- ſatz zwiſchen Capital und Arbeit, ſondern zu einem Gegenſatz der niederen Claſſe gegen das Recht der höheren, und der Kampf, der ſich daraus entwickelt, wird damit zu einem Kampfe gegen die ganze geſellſchaftliche Rechtsordnung. Erſt wo dieſe geſtürzt, und die Freiheit der Geſellſchaft hergeſtellt iſt, beginnt die große, poſitive Epoche der geſellſchaftlichen Bewegung unſerer Gegenwart und der Zukunft Europas. Denn wir ſtehen erſt im Beginne deſſen, was ſich hier entwickeln und bilden will. In dieſer Bewegung laſſen ſich nun drei große Grundformen ſcheiden, deren feſte Beſtimmung als die Baſis des Urtheils auch über das Kommende angeſehen werden muß. Die erſte dieſer Grundformen beginnt im vorigen Jahrhundert faſt gleichzeitig mit dem Siege der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft über die Unfreiheit der Geſchlechter- und Ständeordnung. Ihre Grundlage iſt eine doppelte. Einerſeits beruht ſie auf dem großen Princip der Gleichheit in Recht und Beſtimmung aller Perſönlichkeit; andererſeits auf der nicht minder großen Thatſache des Entſtehens der capitalloſen Arbeitskraft, die ſich durch die Induſtrie über ganz Europa ausbreitet, und durch die Städte an einzelnen Orten zu der gewaltigen erwerb- und capitalloſen geſellſchaftlichen Geſtaltung des Pauperismus zuſammenballt. Die geiſtige Bewegung, die das obige Princip in dieſer Thatſache erzeugt, bringt die arbeitende Claſſe zunächſt zum Bewußtſein ihrer Selbſtändig- keit und zu der Forderung, an dem Capital Theil zu nehmen, das ſie durch ihre Arbeit zuerſt geſchaffen zu haben meint. Es entſteht das erſte Nachdenken über die geſellſchaftliche Bedeutung des Capitals neben der Erkenntniß ſeiner wirthſchaftlichen Funktion und Macht. Die Ergebniſſe dieſes Nachdenkens ſind die beiden großen Erſcheinungen, die wir den Communismus und den Socialismus nennen. Das Princip des erſten iſt die Negation des Capitals und mit ihm des Eigenthums überhaupt, das des zweiten eine noch unpraktiſch gedachte Unterordnung, das deſſelben unter die Arbeit. Es ſind die erſten Strahlen, welche die neue Zeit auf ein bisher noch nie durchforſchtes

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870, S. 442. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_handbuch_1870/466>, abgerufen am 23.04.2024.