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Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870.

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Einheit aller dieser bei allen Völkern unendlich reichhaltigen und in
stetem Wechsel und Werden begriffenen Rechtsbildung ist nun das
System der Verwaltung. Die höhere Einheit ist der Geist, aus dem
die einzelnen Bestimmungen hervorgehen. Bisher nun sind dieselben in
höchst zerfahrener Weise erlassen, und es ist schwer, sich von ihnen ein
wesentliches Bild zu machen. Allein dennoch fallen sie alle unter gewisse
gemeinsame Gesichtspunkte für die in ihnen enthaltene Rechtsbildung.

Alles Verwaltungsrecht unterscheidet sich nämlich formell in das
gesetzmäßige und das verordnungsmäßige Verwaltungsrecht.
Das erstere hat zu seinem Inhalt stets, vermöge der Natur des Gesetzes,
die allgemeinen Verhältnisse und Principien; das letztere enthält wesentlich
die besonderen Anwendungen des Gesetzes auf bestimmte Fragen und
Zustände. Das verordnungsmäßige Verwaltungsrecht entsteht daher
durch die Dinge selbst, das gesetzmäßige dagegen setzt nicht bloß einen
selbständigen Organismus der gesetzgebenden Gewalt, sondern auch ein
höheres Verständniß des ganzen menschlichen Lebens in seinen Grund-
lagen und Principien voraus. Das gesetzmäßige Verwaltungsrecht
gehört daher stets der höheren geistigen Entwicklung eines Volkes; das
verordnungsmäßige dagegen wird mehr durch die wirkliche Thätigkeit
des letzteren erzeugt. Das erstere dauert mit seinen Bestimmungen
länger, das zweite wechselt rascher. So ersetzen sich beide und erfüllen
das Leben; immer aber ist ihre Wirkung eine wechselseitige. Indem die
Bestimmungen der Verordnung allmälig zu festen und organischen Ge-
setzen werden, müssen sich aus den Gesetzen wieder die Verordnungen
entwickeln, und so zusammen ein eben so großes als lebendiges Ganze
bilden.

Dennoch ist für die innere Verwaltung das nicht erreichbar, was
für die übrigen Theile der Verwaltung als das höchste Ziel erscheint,
eine Codification des bestehenden Verwaltungsrechts; sondern die
höhere Einheit des letzteren wird stets durch die Wissenschaft gegeben
werden müssen. Daher ist die Verwaltungslehre die natürliche und
nothwendige Grundlage des Systems des Verwaltungsrechts. In dem-
selben aber bildet jeder Theil wieder ein selbständiges Ganzes; und
jeder dieser Theile hat daher auch seine Geschichte, die jedoch wieder
von den allgemeinen Faktoren beherrscht wird.

Elemente der Geschichte der Verwaltung und ihres Rechts.

Offenbar nun hat die Verwaltung in ihrem weitesten Sinne, als
Thätigkeit der Gemeinschaft für sich selber, zu allen Zeiten ihre Ge-
schichte gehabt; sie ist wie die Einheit der Menschen so alt wie die Welt.

Einheit aller dieſer bei allen Völkern unendlich reichhaltigen und in
ſtetem Wechſel und Werden begriffenen Rechtsbildung iſt nun das
Syſtem der Verwaltung. Die höhere Einheit iſt der Geiſt, aus dem
die einzelnen Beſtimmungen hervorgehen. Bisher nun ſind dieſelben in
höchſt zerfahrener Weiſe erlaſſen, und es iſt ſchwer, ſich von ihnen ein
weſentliches Bild zu machen. Allein dennoch fallen ſie alle unter gewiſſe
gemeinſame Geſichtspunkte für die in ihnen enthaltene Rechtsbildung.

Alles Verwaltungsrecht unterſcheidet ſich nämlich formell in das
geſetzmäßige und das verordnungsmäßige Verwaltungsrecht.
Das erſtere hat zu ſeinem Inhalt ſtets, vermöge der Natur des Geſetzes,
die allgemeinen Verhältniſſe und Principien; das letztere enthält weſentlich
die beſonderen Anwendungen des Geſetzes auf beſtimmte Fragen und
Zuſtände. Das verordnungsmäßige Verwaltungsrecht entſteht daher
durch die Dinge ſelbſt, das geſetzmäßige dagegen ſetzt nicht bloß einen
ſelbſtändigen Organismus der geſetzgebenden Gewalt, ſondern auch ein
höheres Verſtändniß des ganzen menſchlichen Lebens in ſeinen Grund-
lagen und Principien voraus. Das geſetzmäßige Verwaltungsrecht
gehört daher ſtets der höheren geiſtigen Entwicklung eines Volkes; das
verordnungsmäßige dagegen wird mehr durch die wirkliche Thätigkeit
des letzteren erzeugt. Das erſtere dauert mit ſeinen Beſtimmungen
länger, das zweite wechſelt raſcher. So erſetzen ſich beide und erfüllen
das Leben; immer aber iſt ihre Wirkung eine wechſelſeitige. Indem die
Beſtimmungen der Verordnung allmälig zu feſten und organiſchen Ge-
ſetzen werden, müſſen ſich aus den Geſetzen wieder die Verordnungen
entwickeln, und ſo zuſammen ein eben ſo großes als lebendiges Ganze
bilden.

Dennoch iſt für die innere Verwaltung das nicht erreichbar, was
für die übrigen Theile der Verwaltung als das höchſte Ziel erſcheint,
eine Codification des beſtehenden Verwaltungsrechts; ſondern die
höhere Einheit des letzteren wird ſtets durch die Wiſſenſchaft gegeben
werden müſſen. Daher iſt die Verwaltungslehre die natürliche und
nothwendige Grundlage des Syſtems des Verwaltungsrechts. In dem-
ſelben aber bildet jeder Theil wieder ein ſelbſtändiges Ganzes; und
jeder dieſer Theile hat daher auch ſeine Geſchichte, die jedoch wieder
von den allgemeinen Faktoren beherrſcht wird.

Elemente der Geſchichte der Verwaltung und ihres Rechts.

Offenbar nun hat die Verwaltung in ihrem weiteſten Sinne, als
Thätigkeit der Gemeinſchaft für ſich ſelber, zu allen Zeiten ihre Ge-
ſchichte gehabt; ſie iſt wie die Einheit der Menſchen ſo alt wie die Welt.

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[46/0070] Einheit aller dieſer bei allen Völkern unendlich reichhaltigen und in ſtetem Wechſel und Werden begriffenen Rechtsbildung iſt nun das Syſtem der Verwaltung. Die höhere Einheit iſt der Geiſt, aus dem die einzelnen Beſtimmungen hervorgehen. Bisher nun ſind dieſelben in höchſt zerfahrener Weiſe erlaſſen, und es iſt ſchwer, ſich von ihnen ein weſentliches Bild zu machen. Allein dennoch fallen ſie alle unter gewiſſe gemeinſame Geſichtspunkte für die in ihnen enthaltene Rechtsbildung. Alles Verwaltungsrecht unterſcheidet ſich nämlich formell in das geſetzmäßige und das verordnungsmäßige Verwaltungsrecht. Das erſtere hat zu ſeinem Inhalt ſtets, vermöge der Natur des Geſetzes, die allgemeinen Verhältniſſe und Principien; das letztere enthält weſentlich die beſonderen Anwendungen des Geſetzes auf beſtimmte Fragen und Zuſtände. Das verordnungsmäßige Verwaltungsrecht entſteht daher durch die Dinge ſelbſt, das geſetzmäßige dagegen ſetzt nicht bloß einen ſelbſtändigen Organismus der geſetzgebenden Gewalt, ſondern auch ein höheres Verſtändniß des ganzen menſchlichen Lebens in ſeinen Grund- lagen und Principien voraus. Das geſetzmäßige Verwaltungsrecht gehört daher ſtets der höheren geiſtigen Entwicklung eines Volkes; das verordnungsmäßige dagegen wird mehr durch die wirkliche Thätigkeit des letzteren erzeugt. Das erſtere dauert mit ſeinen Beſtimmungen länger, das zweite wechſelt raſcher. So erſetzen ſich beide und erfüllen das Leben; immer aber iſt ihre Wirkung eine wechſelſeitige. Indem die Beſtimmungen der Verordnung allmälig zu feſten und organiſchen Ge- ſetzen werden, müſſen ſich aus den Geſetzen wieder die Verordnungen entwickeln, und ſo zuſammen ein eben ſo großes als lebendiges Ganze bilden. Dennoch iſt für die innere Verwaltung das nicht erreichbar, was für die übrigen Theile der Verwaltung als das höchſte Ziel erſcheint, eine Codification des beſtehenden Verwaltungsrechts; ſondern die höhere Einheit des letzteren wird ſtets durch die Wiſſenſchaft gegeben werden müſſen. Daher iſt die Verwaltungslehre die natürliche und nothwendige Grundlage des Syſtems des Verwaltungsrechts. In dem- ſelben aber bildet jeder Theil wieder ein ſelbſtändiges Ganzes; und jeder dieſer Theile hat daher auch ſeine Geſchichte, die jedoch wieder von den allgemeinen Faktoren beherrſcht wird. Elemente der Geſchichte der Verwaltung und ihres Rechts. Offenbar nun hat die Verwaltung in ihrem weiteſten Sinne, als Thätigkeit der Gemeinſchaft für ſich ſelber, zu allen Zeiten ihre Ge- ſchichte gehabt; ſie iſt wie die Einheit der Menſchen ſo alt wie die Welt.

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_handbuch_1870/70>, abgerufen am 28.03.2024.