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Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870.

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des siebenzehnten Jahrhunderts dieses Princip als den Eudämonis-
mus
, die Pflicht und das Recht der Staatsgewalt, nicht etwa im
Namen eines Gesetzes, sondern im Namen des Jus naturae das Wohl-
sein aller durch die Gewalt der Polizei herzustellen. Sie lernt daher
mit dem achtzehnten Jahrhundert zwar zu unterscheiden zwischen der
Wohlfahrts- und der Sicherheitspolizei, aber die Begriffe von Freiheit
und Unfreiheit sind ihr gänzlich unbekannt. Die Regierung soll alles
für alle thun; aber sie soll nur sich selber verantwortlich sein. Diese
Grundauffassung, welche wesentlich den Deutschen angehört, und aus
der die Werke von Pufendorf und Wolf hervorgingen, empfängt nun
ihren positiven Inhalt durch die großen Schulen der Nationalökonomie.
Durch sie entsteht der Grundzug in der Anschauungsweise Europa's,
daß der wirthschaftliche Reichthum das höchste Ziel der Saatsaufgabe
sei; jede einzelne dieser Schulen ist ihrerseits daher eben so sehr ein
Verwaltungs- als ein volkswirthschaftliches System; das Merkantilsystem
sucht die Aufgabe der Regierung für die Volkswirthschaft in Schutz
und direkter Staatshülfe, das physiokratische System in der Beseitigung
der Privilegien und Hebung der Landwirthschaft, das industrielle System
in der Förderung der gewerblichen Produktion. So liegt der Schwer-
punkt der Verwaltung dieser Zeit in den Principien der National-
ökonomie; allein daneben entwickeln sich auch schon in bedeutsamer
Weise die übrigen Gebiete. Zunächst wird die praktische Polizei Gegen-
stand einer eigenen Wissenschaft (bei Heumann Jus politiae und
Delamare De la police); dann entstehen selbständige Gesetzgebungen,
wie über Gesundheitswesen, Schulwesen, Wegewesen, Wasserrecht,
Grundbuchswesen und andere; schon wird das Verständniß aller dieser
Dinge als eine Bedingung der Verwaltung angesehen, und das Ende
des vorigen Jahrhunderts sieht dieselben bereits zu einer selbständigen
Wissenschaft erhoben, nur daß man sich, über den Begriff nicht klar,
auch über den Namen nicht einigen kann, indem man sie bald Cameral-
wissenschaft, bald Polizeiwissenschaft, bald Polizeirecht, bald alles zu-
gleich nennt. Aber das bleibt doch das Gesammtresultat, daß die
innere Verwaltung allmählig als ein großes Ganze ihre Selbständigkeit
neben der Rechtspflege und der Staatswirthschaft gewinnt, jedoch noch
von beiden als Nebenwissenschaft zurückgedrängt erscheint. Denn die
alte Rechtsphilosophie hat die Fähigkeit verloren, den neuen Staat
auch als Thätigkeit zu begreifen; sie weiß auch seit Kant in ihm nichts
zu sehen als eine Rechtsordnung, und ihr höchstes und letztes Ziel ist
die Verfassung. Die Wissenschaft, die allein berufen ist, die Einheit
zum Ausdruck zu bringen, gelangt daher zwar zu sehr tief gehenden
Untersuchungen einzelner Gebiete der Staatsaufgaben, aber sie bleiben

des ſiebenzehnten Jahrhunderts dieſes Princip als den Eudämonis-
mus
, die Pflicht und das Recht der Staatsgewalt, nicht etwa im
Namen eines Geſetzes, ſondern im Namen des Jus naturae das Wohl-
ſein aller durch die Gewalt der Polizei herzuſtellen. Sie lernt daher
mit dem achtzehnten Jahrhundert zwar zu unterſcheiden zwiſchen der
Wohlfahrts- und der Sicherheitspolizei, aber die Begriffe von Freiheit
und Unfreiheit ſind ihr gänzlich unbekannt. Die Regierung ſoll alles
für alle thun; aber ſie ſoll nur ſich ſelber verantwortlich ſein. Dieſe
Grundauffaſſung, welche weſentlich den Deutſchen angehört, und aus
der die Werke von Pufendorf und Wolf hervorgingen, empfängt nun
ihren poſitiven Inhalt durch die großen Schulen der Nationalökonomie.
Durch ſie entſteht der Grundzug in der Anſchauungsweiſe Europa’s,
daß der wirthſchaftliche Reichthum das höchſte Ziel der Saatsaufgabe
ſei; jede einzelne dieſer Schulen iſt ihrerſeits daher eben ſo ſehr ein
Verwaltungs- als ein volkswirthſchaftliches Syſtem; das Merkantilſyſtem
ſucht die Aufgabe der Regierung für die Volkswirthſchaft in Schutz
und direkter Staatshülfe, das phyſiokratiſche Syſtem in der Beſeitigung
der Privilegien und Hebung der Landwirthſchaft, das induſtrielle Syſtem
in der Förderung der gewerblichen Produktion. So liegt der Schwer-
punkt der Verwaltung dieſer Zeit in den Principien der National-
ökonomie; allein daneben entwickeln ſich auch ſchon in bedeutſamer
Weiſe die übrigen Gebiete. Zunächſt wird die praktiſche Polizei Gegen-
ſtand einer eigenen Wiſſenſchaft (bei Heumann Jus politiae und
Delamare De la police); dann entſtehen ſelbſtändige Geſetzgebungen,
wie über Geſundheitsweſen, Schulweſen, Wegeweſen, Waſſerrecht,
Grundbuchsweſen und andere; ſchon wird das Verſtändniß aller dieſer
Dinge als eine Bedingung der Verwaltung angeſehen, und das Ende
des vorigen Jahrhunderts ſieht dieſelben bereits zu einer ſelbſtändigen
Wiſſenſchaft erhoben, nur daß man ſich, über den Begriff nicht klar,
auch über den Namen nicht einigen kann, indem man ſie bald Cameral-
wiſſenſchaft, bald Polizeiwiſſenſchaft, bald Polizeirecht, bald alles zu-
gleich nennt. Aber das bleibt doch das Geſammtreſultat, daß die
innere Verwaltung allmählig als ein großes Ganze ihre Selbſtändigkeit
neben der Rechtspflege und der Staatswirthſchaft gewinnt, jedoch noch
von beiden als Nebenwiſſenſchaft zurückgedrängt erſcheint. Denn die
alte Rechtsphiloſophie hat die Fähigkeit verloren, den neuen Staat
auch als Thätigkeit zu begreifen; ſie weiß auch ſeit Kant in ihm nichts
zu ſehen als eine Rechtsordnung, und ihr höchſtes und letztes Ziel iſt
die Verfaſſung. Die Wiſſenſchaft, die allein berufen iſt, die Einheit
zum Ausdruck zu bringen, gelangt daher zwar zu ſehr tief gehenden
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[50/0074] des ſiebenzehnten Jahrhunderts dieſes Princip als den Eudämonis- mus, die Pflicht und das Recht der Staatsgewalt, nicht etwa im Namen eines Geſetzes, ſondern im Namen des Jus naturae das Wohl- ſein aller durch die Gewalt der Polizei herzuſtellen. Sie lernt daher mit dem achtzehnten Jahrhundert zwar zu unterſcheiden zwiſchen der Wohlfahrts- und der Sicherheitspolizei, aber die Begriffe von Freiheit und Unfreiheit ſind ihr gänzlich unbekannt. Die Regierung ſoll alles für alle thun; aber ſie ſoll nur ſich ſelber verantwortlich ſein. Dieſe Grundauffaſſung, welche weſentlich den Deutſchen angehört, und aus der die Werke von Pufendorf und Wolf hervorgingen, empfängt nun ihren poſitiven Inhalt durch die großen Schulen der Nationalökonomie. Durch ſie entſteht der Grundzug in der Anſchauungsweiſe Europa’s, daß der wirthſchaftliche Reichthum das höchſte Ziel der Saatsaufgabe ſei; jede einzelne dieſer Schulen iſt ihrerſeits daher eben ſo ſehr ein Verwaltungs- als ein volkswirthſchaftliches Syſtem; das Merkantilſyſtem ſucht die Aufgabe der Regierung für die Volkswirthſchaft in Schutz und direkter Staatshülfe, das phyſiokratiſche Syſtem in der Beſeitigung der Privilegien und Hebung der Landwirthſchaft, das induſtrielle Syſtem in der Förderung der gewerblichen Produktion. So liegt der Schwer- punkt der Verwaltung dieſer Zeit in den Principien der National- ökonomie; allein daneben entwickeln ſich auch ſchon in bedeutſamer Weiſe die übrigen Gebiete. Zunächſt wird die praktiſche Polizei Gegen- ſtand einer eigenen Wiſſenſchaft (bei Heumann Jus politiae und Delamare De la police); dann entſtehen ſelbſtändige Geſetzgebungen, wie über Geſundheitsweſen, Schulweſen, Wegeweſen, Waſſerrecht, Grundbuchsweſen und andere; ſchon wird das Verſtändniß aller dieſer Dinge als eine Bedingung der Verwaltung angeſehen, und das Ende des vorigen Jahrhunderts ſieht dieſelben bereits zu einer ſelbſtändigen Wiſſenſchaft erhoben, nur daß man ſich, über den Begriff nicht klar, auch über den Namen nicht einigen kann, indem man ſie bald Cameral- wiſſenſchaft, bald Polizeiwiſſenſchaft, bald Polizeirecht, bald alles zu- gleich nennt. Aber das bleibt doch das Geſammtreſultat, daß die innere Verwaltung allmählig als ein großes Ganze ihre Selbſtändigkeit neben der Rechtspflege und der Staatswirthſchaft gewinnt, jedoch noch von beiden als Nebenwiſſenſchaft zurückgedrängt erſcheint. Denn die alte Rechtsphiloſophie hat die Fähigkeit verloren, den neuen Staat auch als Thätigkeit zu begreifen; ſie weiß auch ſeit Kant in ihm nichts zu ſehen als eine Rechtsordnung, und ihr höchſtes und letztes Ziel iſt die Verfaſſung. Die Wiſſenſchaft, die allein berufen iſt, die Einheit zum Ausdruck zu bringen, gelangt daher zwar zu ſehr tief gehenden Unterſuchungen einzelner Gebiete der Staatsaufgaben, aber ſie bleiben

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_handbuch_1870/74>, abgerufen am 28.03.2024.