Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870.

Bild:
<< vorherige Seite

für das richtige Verständniß jeder Thatsache, also auch der des Staats-
lebens. Sie hat damit ihr eigenes System; es ist die Logik und Dia-
lektik der Erscheinungen neben der des Gedankens. Ihre Elemente
sind folgende.

Der Akt, durch welchen ich das Dasein einer Thatsache mir zum
Bewußtsein bringe, indem ich denselben messe, ist die Beobachtung.
Der Werth der Beobachtung wird daher bestimmt von der Genauigkeit
und Zweckmäßigkeit des Maßes, und steigt in umgekehrtem Verhält-
niß zu der Kleinheit der Differenzen, welche sie ergibt. Diese Diffe-
renzen verschwinden nie ganz, möge der Grund nun liegen wo er will.
Ich kann daher mit gar keiner einzelnen Beobachtung eine Thatsache
genau messen, sondern ich muß einen Durchschnitt bilden, dessen
Werth -- oder Wahrheit -- um so größer ist, je größer die Zahl der
Beobachtungen und je geringer der Grad ihrer Differenz. So gelange
ich zu der Thatsache, deren Begriff daher die durch die Beobachtung
gemessene einheitliche Erscheinung ist. Jedes gewisse, als eine selb-
ständige Einheit erkannte Dasein ist demnach eine Thatsache.

Diese Thatsache wechselt. Der Wechsel enthält zwei Momente,
welche ich Grund und Folge nenne. Wenn ich nun Grund und Folge
selbst wieder als selbständige Thatsache beobachte und mithin messe, so
entstehen die Begriffe von Ursache und Wirkung. Die Ursache
ist der beobachtete Grund, die Wirkung ist die beobachtete Folge.
Allein die Ursache ist mit ihrer einmaligen Wirkung nicht erschöpft;
denn die letztere ist nicht bloß Erscheinung des Grundes, sondern auch
Erscheinung der auf denselben einwirkenden unendlichen Mannichfaltig-
keit anderer Kräfte. Das wahre Maß des Grundes liegt daher nicht
in ihm selbst, sondern in seiner Kraft dritte Erscheinungen durch sich
zu bestimmen. An diesem erscheint jene Kraft. Ich messe daher den
Grund, indem ich die möglichen Wirkungen nach den vorhandenen
und beobachteten berechne; und das so entstandene Maß der Kraft,
die ich in Beziehung auf ihre einmalige Erscheinung die Wirkung
nannte, ist dann die Wahrscheinlichkeit. Die Wahrscheinlichkeit
also ist das durch die Wirkung dritter Kräfte gesetzte Maß der beob-
achteten Grundkraft. Indem ich durch dieses Maß zur Gewißheit der
selbstwirkend vorhandenen Kraft gelange, entsteht der Begriff des Ge-
setzes
. Jede Beobachtung strebt daher zum Gesetze zu gelangen; jede
Thatsache ist nur die Erscheinung eines Gesetzes; die Gesammtheit aller
Thatsachen löst sich durch die Gesetze in eine große harmonische Ord-
nung aller Dinge auf; und so ist die Wissenschaft der Thatsachen die-
jenige Weltanschauung, welche vom Einzelnen zum Ganzen gelangt.
Für sie gibt es keinen Zufall und keinen Unterschied des Werthes

für das richtige Verſtändniß jeder Thatſache, alſo auch der des Staats-
lebens. Sie hat damit ihr eigenes Syſtem; es iſt die Logik und Dia-
lektik der Erſcheinungen neben der des Gedankens. Ihre Elemente
ſind folgende.

Der Akt, durch welchen ich das Daſein einer Thatſache mir zum
Bewußtſein bringe, indem ich denſelben meſſe, iſt die Beobachtung.
Der Werth der Beobachtung wird daher beſtimmt von der Genauigkeit
und Zweckmäßigkeit des Maßes, und ſteigt in umgekehrtem Verhält-
niß zu der Kleinheit der Differenzen, welche ſie ergibt. Dieſe Diffe-
renzen verſchwinden nie ganz, möge der Grund nun liegen wo er will.
Ich kann daher mit gar keiner einzelnen Beobachtung eine Thatſache
genau meſſen, ſondern ich muß einen Durchſchnitt bilden, deſſen
Werth — oder Wahrheit — um ſo größer iſt, je größer die Zahl der
Beobachtungen und je geringer der Grad ihrer Differenz. So gelange
ich zu der Thatſache, deren Begriff daher die durch die Beobachtung
gemeſſene einheitliche Erſcheinung iſt. Jedes gewiſſe, als eine ſelb-
ſtändige Einheit erkannte Daſein iſt demnach eine Thatſache.

Dieſe Thatſache wechſelt. Der Wechſel enthält zwei Momente,
welche ich Grund und Folge nenne. Wenn ich nun Grund und Folge
ſelbſt wieder als ſelbſtändige Thatſache beobachte und mithin meſſe, ſo
entſtehen die Begriffe von Urſache und Wirkung. Die Urſache
iſt der beobachtete Grund, die Wirkung iſt die beobachtete Folge.
Allein die Urſache iſt mit ihrer einmaligen Wirkung nicht erſchöpft;
denn die letztere iſt nicht bloß Erſcheinung des Grundes, ſondern auch
Erſcheinung der auf denſelben einwirkenden unendlichen Mannichfaltig-
keit anderer Kräfte. Das wahre Maß des Grundes liegt daher nicht
in ihm ſelbſt, ſondern in ſeiner Kraft dritte Erſcheinungen durch ſich
zu beſtimmen. An dieſem erſcheint jene Kraft. Ich meſſe daher den
Grund, indem ich die möglichen Wirkungen nach den vorhandenen
und beobachteten berechne; und das ſo entſtandene Maß der Kraft,
die ich in Beziehung auf ihre einmalige Erſcheinung die Wirkung
nannte, iſt dann die Wahrſcheinlichkeit. Die Wahrſcheinlichkeit
alſo iſt das durch die Wirkung dritter Kräfte geſetzte Maß der beob-
achteten Grundkraft. Indem ich durch dieſes Maß zur Gewißheit der
ſelbſtwirkend vorhandenen Kraft gelange, entſteht der Begriff des Ge-
ſetzes
. Jede Beobachtung ſtrebt daher zum Geſetze zu gelangen; jede
Thatſache iſt nur die Erſcheinung eines Geſetzes; die Geſammtheit aller
Thatſachen löst ſich durch die Geſetze in eine große harmoniſche Ord-
nung aller Dinge auf; und ſo iſt die Wiſſenſchaft der Thatſachen die-
jenige Weltanſchauung, welche vom Einzelnen zum Ganzen gelangt.
Für ſie gibt es keinen Zufall und keinen Unterſchied des Werthes

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <p><pb facs="#f0083" n="59"/>
für das richtige Ver&#x017F;tändniß <hi rendition="#g">jeder</hi> That&#x017F;ache, al&#x017F;o auch der des Staats-<lb/>
lebens. Sie hat damit ihr eigenes Sy&#x017F;tem; es i&#x017F;t die Logik und Dia-<lb/>
lektik der Er&#x017F;cheinungen neben der des Gedankens. Ihre Elemente<lb/>
&#x017F;ind folgende.</p><lb/>
                  <p>Der Akt, durch welchen ich das Da&#x017F;ein einer That&#x017F;ache mir zum<lb/>
Bewußt&#x017F;ein bringe, indem ich den&#x017F;elben <hi rendition="#g">me&#x017F;&#x017F;e</hi>, i&#x017F;t die <hi rendition="#g">Beobachtung</hi>.<lb/>
Der Werth der Beobachtung wird daher be&#x017F;timmt von der Genauigkeit<lb/>
und Zweckmäßigkeit des Maßes, und <hi rendition="#g">&#x017F;teigt</hi> in umgekehrtem Verhält-<lb/>
niß zu der Kleinheit der Differenzen, welche &#x017F;ie ergibt. Die&#x017F;e Diffe-<lb/>
renzen ver&#x017F;chwinden nie ganz, möge der Grund nun liegen wo er will.<lb/>
Ich kann daher mit gar keiner einzelnen Beobachtung eine That&#x017F;ache<lb/>
genau me&#x017F;&#x017F;en, &#x017F;ondern ich muß einen <hi rendition="#g">Durch&#x017F;chnitt</hi> bilden, de&#x017F;&#x017F;en<lb/>
Werth &#x2014; oder Wahrheit &#x2014; um &#x017F;o größer i&#x017F;t, je größer die Zahl der<lb/>
Beobachtungen und je geringer der Grad ihrer Differenz. So gelange<lb/>
ich zu der <hi rendition="#g">That&#x017F;ache</hi>, deren Begriff daher die durch die Beobachtung<lb/>
geme&#x017F;&#x017F;ene einheitliche Er&#x017F;cheinung i&#x017F;t. Jedes gewi&#x017F;&#x017F;e, als eine &#x017F;elb-<lb/>
&#x017F;tändige Einheit erkannte Da&#x017F;ein i&#x017F;t demnach eine That&#x017F;ache.</p><lb/>
                  <p>Die&#x017F;e That&#x017F;ache wech&#x017F;elt. Der Wech&#x017F;el enthält zwei Momente,<lb/>
welche ich Grund und Folge nenne. Wenn ich nun Grund und Folge<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t wieder als &#x017F;elb&#x017F;tändige That&#x017F;ache beobachte und mithin me&#x017F;&#x017F;e, &#x017F;o<lb/>
ent&#x017F;tehen die Begriffe von <hi rendition="#g">Ur&#x017F;ache</hi> und <hi rendition="#g">Wirkung</hi>. Die Ur&#x017F;ache<lb/>
i&#x017F;t der beobachtete Grund, die Wirkung i&#x017F;t die beobachtete Folge.<lb/>
Allein die Ur&#x017F;ache i&#x017F;t mit ihrer einmaligen Wirkung nicht er&#x017F;chöpft;<lb/>
denn die letztere i&#x017F;t nicht bloß Er&#x017F;cheinung des Grundes, &#x017F;ondern auch<lb/>
Er&#x017F;cheinung der auf den&#x017F;elben einwirkenden unendlichen Mannichfaltig-<lb/>
keit anderer Kräfte. Das wahre Maß des Grundes liegt daher nicht<lb/>
in ihm &#x017F;elb&#x017F;t, &#x017F;ondern in &#x017F;einer Kraft dritte Er&#x017F;cheinungen durch &#x017F;ich<lb/>
zu be&#x017F;timmen. An die&#x017F;em <hi rendition="#g">er&#x017F;cheint</hi> jene Kraft. Ich me&#x017F;&#x017F;e daher den<lb/>
Grund, indem ich die möglichen Wirkungen nach den vorhandenen<lb/>
und beobachteten berechne; und das &#x017F;o ent&#x017F;tandene Maß der Kraft,<lb/>
die ich in Beziehung auf ihre einmalige Er&#x017F;cheinung die Wirkung<lb/>
nannte, i&#x017F;t dann die <hi rendition="#g">Wahr&#x017F;cheinlichkeit</hi>. Die Wahr&#x017F;cheinlichkeit<lb/>
al&#x017F;o i&#x017F;t das durch die Wirkung dritter Kräfte ge&#x017F;etzte Maß der beob-<lb/>
achteten Grundkraft. Indem ich durch die&#x017F;es Maß zur Gewißheit der<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;twirkend vorhandenen Kraft gelange, ent&#x017F;teht der Begriff des <hi rendition="#g">Ge-<lb/>
&#x017F;etzes</hi>. Jede Beobachtung &#x017F;trebt daher zum Ge&#x017F;etze zu gelangen; jede<lb/>
That&#x017F;ache i&#x017F;t nur die Er&#x017F;cheinung eines Ge&#x017F;etzes; die Ge&#x017F;ammtheit aller<lb/>
That&#x017F;achen löst &#x017F;ich durch die Ge&#x017F;etze in eine große harmoni&#x017F;che Ord-<lb/>
nung aller Dinge auf; und &#x017F;o i&#x017F;t die Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft der That&#x017F;achen die-<lb/>
jenige Weltan&#x017F;chauung, welche vom Einzelnen zum Ganzen gelangt.<lb/>
Für &#x017F;ie gibt es keinen Zufall und keinen Unter&#x017F;chied des Werthes<lb/></p>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[59/0083] für das richtige Verſtändniß jeder Thatſache, alſo auch der des Staats- lebens. Sie hat damit ihr eigenes Syſtem; es iſt die Logik und Dia- lektik der Erſcheinungen neben der des Gedankens. Ihre Elemente ſind folgende. Der Akt, durch welchen ich das Daſein einer Thatſache mir zum Bewußtſein bringe, indem ich denſelben meſſe, iſt die Beobachtung. Der Werth der Beobachtung wird daher beſtimmt von der Genauigkeit und Zweckmäßigkeit des Maßes, und ſteigt in umgekehrtem Verhält- niß zu der Kleinheit der Differenzen, welche ſie ergibt. Dieſe Diffe- renzen verſchwinden nie ganz, möge der Grund nun liegen wo er will. Ich kann daher mit gar keiner einzelnen Beobachtung eine Thatſache genau meſſen, ſondern ich muß einen Durchſchnitt bilden, deſſen Werth — oder Wahrheit — um ſo größer iſt, je größer die Zahl der Beobachtungen und je geringer der Grad ihrer Differenz. So gelange ich zu der Thatſache, deren Begriff daher die durch die Beobachtung gemeſſene einheitliche Erſcheinung iſt. Jedes gewiſſe, als eine ſelb- ſtändige Einheit erkannte Daſein iſt demnach eine Thatſache. Dieſe Thatſache wechſelt. Der Wechſel enthält zwei Momente, welche ich Grund und Folge nenne. Wenn ich nun Grund und Folge ſelbſt wieder als ſelbſtändige Thatſache beobachte und mithin meſſe, ſo entſtehen die Begriffe von Urſache und Wirkung. Die Urſache iſt der beobachtete Grund, die Wirkung iſt die beobachtete Folge. Allein die Urſache iſt mit ihrer einmaligen Wirkung nicht erſchöpft; denn die letztere iſt nicht bloß Erſcheinung des Grundes, ſondern auch Erſcheinung der auf denſelben einwirkenden unendlichen Mannichfaltig- keit anderer Kräfte. Das wahre Maß des Grundes liegt daher nicht in ihm ſelbſt, ſondern in ſeiner Kraft dritte Erſcheinungen durch ſich zu beſtimmen. An dieſem erſcheint jene Kraft. Ich meſſe daher den Grund, indem ich die möglichen Wirkungen nach den vorhandenen und beobachteten berechne; und das ſo entſtandene Maß der Kraft, die ich in Beziehung auf ihre einmalige Erſcheinung die Wirkung nannte, iſt dann die Wahrſcheinlichkeit. Die Wahrſcheinlichkeit alſo iſt das durch die Wirkung dritter Kräfte geſetzte Maß der beob- achteten Grundkraft. Indem ich durch dieſes Maß zur Gewißheit der ſelbſtwirkend vorhandenen Kraft gelange, entſteht der Begriff des Ge- ſetzes. Jede Beobachtung ſtrebt daher zum Geſetze zu gelangen; jede Thatſache iſt nur die Erſcheinung eines Geſetzes; die Geſammtheit aller Thatſachen löst ſich durch die Geſetze in eine große harmoniſche Ord- nung aller Dinge auf; und ſo iſt die Wiſſenſchaft der Thatſachen die- jenige Weltanſchauung, welche vom Einzelnen zum Ganzen gelangt. Für ſie gibt es keinen Zufall und keinen Unterſchied des Werthes

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_handbuch_1870
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_handbuch_1870/83
Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_handbuch_1870/83>, abgerufen am 28.03.2024.