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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865.

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aber ein förmlicher Proceß sehr viel Geld kostet, und das Gesetz zum
Schutze der Friedensrichter die Handlungen derselben und ihre Compe-
tenz sehr dehnbar macht, so darf man unbedenklich behaupten, daß
materiell das System der Scheidung von Competenzstreit und Conflikt
auch für England weit besser sein würde, als sein gegenwärtiges System.
Die action of trespass ist die Competenzklage bei Verhaftungen. Das
writ of certiorari und das mandamus, insofern sie alle anhängigen
Sachen umfassen, beziehen sich daher auch auf diejenigen Competenz-
Entscheidungen der Quarterly Sessions, welche unter den Competenzstreit
fallen. Die Kings Bench erscheint daher als der Competenzgerichts-
hof
Englands, obgleich man Begriff und Recht weder für Competenz-
streit und Conflikt, noch für Competenzgerichtshof hat; nicht einmal
der Name kommt vor. Wir verweisen für die weitere Ausführung theils
auf das Obige, theils auf Gneist II. §. 75. Sollen wir demgemäß den
Charakter des englischen öffentlichen Rechts auf diesem Punkte bezeichnen,
so müssen wir sagen: das Princip der Auflösung aller Beschwerden in
die Klage, und aller Competenzstreite in die Competenzconflikte, und
damit des Verschwindens des eigentlichen organischen Rechts der Com-
petenz in England beruht auch hier auf dem grundsätzlichen Mangel
der Selbständigkeit des Verordnungsrechts gegenüber der Gesetzgebung
und der daraus hervorgehenden Verschmelzung von Justiz und Ad-
ministration. -- Ein ganz anderes Bild bietet Frankreich dar.

2) Der Competenzconflikt in Frankreich.

Wie in England, so ist auch in Frankreich das Competenzrecht
der Ausdruck und zum Theil die Grundlage der ganzen innern Bil-
dung des Staats und seines öffentlichen Rechts gewesen; es ist nicht
möglich, jenes Recht zu verstehen, ohne sich den Geist des letzteren
gegenwärtig zu halten.

Frankreichs neuere Geschichte ist der Sieg der einheitlichen Staats-
idee über die rechtliche Selbständigkeit seiner Theile. Dieser Charakter
Frankreichs ist weder anders unter dem Königthum noch unter der
Republik, noch unter dem Kaiserthum. Der Sieg der Staatsgewalt im
engeren Sinn des Wortes wird aber errungen eben durch die nie rastende
Thätigkeit ihrer vollziehenden Organe. Nirgends ist daher das Bedürf-
niß, ihnen die möglichst große Freiheit zu lassen, größer und herrschen-
der, als in Frankreich selbst; ja es ist erklärlich, daß sich dieser den
eigentlichen Charakter dieser merkwürdigen Staatsbildung erst recht ver-
wirklichenden Forderung alle übrigen Grundsätze des öffentlichen Rechts
untergeordnet haben und noch unterordnen. Jene Freiheit der Be-
wegung der vollziehenden Organe aber ist, rechtlich ausgedrückt, eben

aber ein förmlicher Proceß ſehr viel Geld koſtet, und das Geſetz zum
Schutze der Friedensrichter die Handlungen derſelben und ihre Compe-
tenz ſehr dehnbar macht, ſo darf man unbedenklich behaupten, daß
materiell das Syſtem der Scheidung von Competenzſtreit und Conflikt
auch für England weit beſſer ſein würde, als ſein gegenwärtiges Syſtem.
Die action of trespass iſt die Competenzklage bei Verhaftungen. Das
writ of certiorari und das mandamus, inſofern ſie alle anhängigen
Sachen umfaſſen, beziehen ſich daher auch auf diejenigen Competenz-
Entſcheidungen der Quarterly Sessions, welche unter den Competenzſtreit
fallen. Die Kings Bench erſcheint daher als der Competenzgerichts-
hof
Englands, obgleich man Begriff und Recht weder für Competenz-
ſtreit und Conflikt, noch für Competenzgerichtshof hat; nicht einmal
der Name kommt vor. Wir verweiſen für die weitere Ausführung theils
auf das Obige, theils auf Gneiſt II. §. 75. Sollen wir demgemäß den
Charakter des engliſchen öffentlichen Rechts auf dieſem Punkte bezeichnen,
ſo müſſen wir ſagen: das Princip der Auflöſung aller Beſchwerden in
die Klage, und aller Competenzſtreite in die Competenzconflikte, und
damit des Verſchwindens des eigentlichen organiſchen Rechts der Com-
petenz in England beruht auch hier auf dem grundſätzlichen Mangel
der Selbſtändigkeit des Verordnungsrechts gegenüber der Geſetzgebung
und der daraus hervorgehenden Verſchmelzung von Juſtiz und Ad-
miniſtration. — Ein ganz anderes Bild bietet Frankreich dar.

2) Der Competenzconflikt in Frankreich.

Wie in England, ſo iſt auch in Frankreich das Competenzrecht
der Ausdruck und zum Theil die Grundlage der ganzen innern Bil-
dung des Staats und ſeines öffentlichen Rechts geweſen; es iſt nicht
möglich, jenes Recht zu verſtehen, ohne ſich den Geiſt des letzteren
gegenwärtig zu halten.

Frankreichs neuere Geſchichte iſt der Sieg der einheitlichen Staats-
idee über die rechtliche Selbſtändigkeit ſeiner Theile. Dieſer Charakter
Frankreichs iſt weder anders unter dem Königthum noch unter der
Republik, noch unter dem Kaiſerthum. Der Sieg der Staatsgewalt im
engeren Sinn des Wortes wird aber errungen eben durch die nie raſtende
Thätigkeit ihrer vollziehenden Organe. Nirgends iſt daher das Bedürf-
niß, ihnen die möglichſt große Freiheit zu laſſen, größer und herrſchen-
der, als in Frankreich ſelbſt; ja es iſt erklärlich, daß ſich dieſer den
eigentlichen Charakter dieſer merkwürdigen Staatsbildung erſt recht ver-
wirklichenden Forderung alle übrigen Grundſätze des öffentlichen Rechts
untergeordnet haben und noch unterordnen. Jene Freiheit der Be-
wegung der vollziehenden Organe aber iſt, rechtlich ausgedrückt, eben

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[173/0197] aber ein förmlicher Proceß ſehr viel Geld koſtet, und das Geſetz zum Schutze der Friedensrichter die Handlungen derſelben und ihre Compe- tenz ſehr dehnbar macht, ſo darf man unbedenklich behaupten, daß materiell das Syſtem der Scheidung von Competenzſtreit und Conflikt auch für England weit beſſer ſein würde, als ſein gegenwärtiges Syſtem. Die action of trespass iſt die Competenzklage bei Verhaftungen. Das writ of certiorari und das mandamus, inſofern ſie alle anhängigen Sachen umfaſſen, beziehen ſich daher auch auf diejenigen Competenz- Entſcheidungen der Quarterly Sessions, welche unter den Competenzſtreit fallen. Die Kings Bench erſcheint daher als der Competenzgerichts- hof Englands, obgleich man Begriff und Recht weder für Competenz- ſtreit und Conflikt, noch für Competenzgerichtshof hat; nicht einmal der Name kommt vor. Wir verweiſen für die weitere Ausführung theils auf das Obige, theils auf Gneiſt II. §. 75. Sollen wir demgemäß den Charakter des engliſchen öffentlichen Rechts auf dieſem Punkte bezeichnen, ſo müſſen wir ſagen: das Princip der Auflöſung aller Beſchwerden in die Klage, und aller Competenzſtreite in die Competenzconflikte, und damit des Verſchwindens des eigentlichen organiſchen Rechts der Com- petenz in England beruht auch hier auf dem grundſätzlichen Mangel der Selbſtändigkeit des Verordnungsrechts gegenüber der Geſetzgebung und der daraus hervorgehenden Verſchmelzung von Juſtiz und Ad- miniſtration. — Ein ganz anderes Bild bietet Frankreich dar. 2) Der Competenzconflikt in Frankreich. Wie in England, ſo iſt auch in Frankreich das Competenzrecht der Ausdruck und zum Theil die Grundlage der ganzen innern Bil- dung des Staats und ſeines öffentlichen Rechts geweſen; es iſt nicht möglich, jenes Recht zu verſtehen, ohne ſich den Geiſt des letzteren gegenwärtig zu halten. Frankreichs neuere Geſchichte iſt der Sieg der einheitlichen Staats- idee über die rechtliche Selbſtändigkeit ſeiner Theile. Dieſer Charakter Frankreichs iſt weder anders unter dem Königthum noch unter der Republik, noch unter dem Kaiſerthum. Der Sieg der Staatsgewalt im engeren Sinn des Wortes wird aber errungen eben durch die nie raſtende Thätigkeit ihrer vollziehenden Organe. Nirgends iſt daher das Bedürf- niß, ihnen die möglichſt große Freiheit zu laſſen, größer und herrſchen- der, als in Frankreich ſelbſt; ja es iſt erklärlich, daß ſich dieſer den eigentlichen Charakter dieſer merkwürdigen Staatsbildung erſt recht ver- wirklichenden Forderung alle übrigen Grundſätze des öffentlichen Rechts untergeordnet haben und noch unterordnen. Jene Freiheit der Be- wegung der vollziehenden Organe aber iſt, rechtlich ausgedrückt, eben

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 173. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/197>, abgerufen am 28.03.2024.