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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865.

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b) Die Selbstverwaltung Frankreichs.

Wenn unsere allgemeine Bemerkung richtig war, daß die Indivi-
dualität der Staatenbildung gerade in der Selbstverwaltung am deut-
lichsten hervortritt, so muß der Unterschied zwischen der Selbstverwaltung
Frankreichs und Englands in Form wie in Charakter ein ungemeiner
sein. Denn mit Recht nimmt man an, daß keine zwei Staaten der
Welt tiefer von einander verschieden sind als diese beiden.

Und dieß nun ist in der That der Fall. Indem wir die frühere
Geschichte Frankreichs dabei zur Seite lassen, und nur im Allgemeinen
erinnern, daß dieselbe in Beziehung auf den Charakter der Verwaltung
von der gegenwärtigen gar nicht so wesentlich abweicht, wollen wir
diesen Charakter der Verwaltung nach der Revolution und speziell ihr
Verhältniß zur Selbstverwaltung kurz ins Gedächtniß rufen.

Die Revolution, wie bekannt, brach in Paris aus, nicht in
Frankreich. Sie war der Ausdruck eines großen, aber abstrakten
Princips. Sie brachte daher seit ihrer Geburt jenen Haß gegen die
Thatsachen und ihre Besonderheiten mit sich, den der Gedanke um so
schwerer überwindet, je größer er ist. Der Kampf mit diesen That-
sachen aber sollte dem revolutionären Princip nicht erspart werden. Es
ist aber sehr nothwendig, sich über das klar zu sein, was wir hier als
die Thatsachen bezeichnen, welche der Revolution entgegentraten.

Diese Thatsachen waren nichts anderes, als die Macht und die
Interessen der historischen Zustände im Innern Frankreichs, die recht-
liche und faktische Herrschaft des Adels auf dem flachen Lande, und der
Zünfte und Innungen in den Städten. Die letzteren hatten unter
Turgots Ministerium ihren ersten Kampf zu bestehen, und siegten; sie
vernichteten mit dem Edikt von 1776 über die Gewerbefreiheit auch
den Minister, der sie im Namen der physiokratischen Theorie durchführen
wollte. Die ersteren waren bis zur Revolution gar nicht angegriffen.
Das Princip der Freiheit und Gleichheit hob nun beide allerdings
grundsätzlich auf, und die Nacht des vierten Augusts 1789 sprach diese
grundsätzliche Aufhebung aus. Allein daß damit erst der Anfang
der gesellschaftlichen Umgestaltung gegeben sei, darüber war sich alles
klar. Bei aller Anerkennung der Freiheit blieb die materielle und
zum Theil auch traditionelle Macht in den ständischen Elementen,
dem Adel, der Geistlichkeit, den städtischen Patriziern. Hätte das
Princip der Freiheit die Selbstverwaltung in Frankreich
erzeugt, wie sie in England bestand, so wäre es eben selbst
vor der Hand ein Princip geblieben
. Das fühlte man schon
mit vollkommener Deutlichkeit im Jahre 1789, mehr noch im Jahre 1790.

b) Die Selbſtverwaltung Frankreichs.

Wenn unſere allgemeine Bemerkung richtig war, daß die Indivi-
dualität der Staatenbildung gerade in der Selbſtverwaltung am deut-
lichſten hervortritt, ſo muß der Unterſchied zwiſchen der Selbſtverwaltung
Frankreichs und Englands in Form wie in Charakter ein ungemeiner
ſein. Denn mit Recht nimmt man an, daß keine zwei Staaten der
Welt tiefer von einander verſchieden ſind als dieſe beiden.

Und dieß nun iſt in der That der Fall. Indem wir die frühere
Geſchichte Frankreichs dabei zur Seite laſſen, und nur im Allgemeinen
erinnern, daß dieſelbe in Beziehung auf den Charakter der Verwaltung
von der gegenwärtigen gar nicht ſo weſentlich abweicht, wollen wir
dieſen Charakter der Verwaltung nach der Revolution und ſpeziell ihr
Verhältniß zur Selbſtverwaltung kurz ins Gedächtniß rufen.

Die Revolution, wie bekannt, brach in Paris aus, nicht in
Frankreich. Sie war der Ausdruck eines großen, aber abſtrakten
Princips. Sie brachte daher ſeit ihrer Geburt jenen Haß gegen die
Thatſachen und ihre Beſonderheiten mit ſich, den der Gedanke um ſo
ſchwerer überwindet, je größer er iſt. Der Kampf mit dieſen That-
ſachen aber ſollte dem revolutionären Princip nicht erſpart werden. Es
iſt aber ſehr nothwendig, ſich über das klar zu ſein, was wir hier als
die Thatſachen bezeichnen, welche der Revolution entgegentraten.

Dieſe Thatſachen waren nichts anderes, als die Macht und die
Intereſſen der hiſtoriſchen Zuſtände im Innern Frankreichs, die recht-
liche und faktiſche Herrſchaft des Adels auf dem flachen Lande, und der
Zünfte und Innungen in den Städten. Die letzteren hatten unter
Turgots Miniſterium ihren erſten Kampf zu beſtehen, und ſiegten; ſie
vernichteten mit dem Edikt von 1776 über die Gewerbefreiheit auch
den Miniſter, der ſie im Namen der phyſiokratiſchen Theorie durchführen
wollte. Die erſteren waren bis zur Revolution gar nicht angegriffen.
Das Princip der Freiheit und Gleichheit hob nun beide allerdings
grundſätzlich auf, und die Nacht des vierten Auguſts 1789 ſprach dieſe
grundſätzliche Aufhebung aus. Allein daß damit erſt der Anfang
der geſellſchaftlichen Umgeſtaltung gegeben ſei, darüber war ſich alles
klar. Bei aller Anerkennung der Freiheit blieb die materielle und
zum Theil auch traditionelle Macht in den ſtändiſchen Elementen,
dem Adel, der Geiſtlichkeit, den ſtädtiſchen Patriziern. Hätte das
Princip der Freiheit die Selbſtverwaltung in Frankreich
erzeugt, wie ſie in England beſtand, ſo wäre es eben ſelbſt
vor der Hand ein Princip geblieben
. Das fühlte man ſchon
mit vollkommener Deutlichkeit im Jahre 1789, mehr noch im Jahre 1790.

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[391/0415] b) Die Selbſtverwaltung Frankreichs. Wenn unſere allgemeine Bemerkung richtig war, daß die Indivi- dualität der Staatenbildung gerade in der Selbſtverwaltung am deut- lichſten hervortritt, ſo muß der Unterſchied zwiſchen der Selbſtverwaltung Frankreichs und Englands in Form wie in Charakter ein ungemeiner ſein. Denn mit Recht nimmt man an, daß keine zwei Staaten der Welt tiefer von einander verſchieden ſind als dieſe beiden. Und dieß nun iſt in der That der Fall. Indem wir die frühere Geſchichte Frankreichs dabei zur Seite laſſen, und nur im Allgemeinen erinnern, daß dieſelbe in Beziehung auf den Charakter der Verwaltung von der gegenwärtigen gar nicht ſo weſentlich abweicht, wollen wir dieſen Charakter der Verwaltung nach der Revolution und ſpeziell ihr Verhältniß zur Selbſtverwaltung kurz ins Gedächtniß rufen. Die Revolution, wie bekannt, brach in Paris aus, nicht in Frankreich. Sie war der Ausdruck eines großen, aber abſtrakten Princips. Sie brachte daher ſeit ihrer Geburt jenen Haß gegen die Thatſachen und ihre Beſonderheiten mit ſich, den der Gedanke um ſo ſchwerer überwindet, je größer er iſt. Der Kampf mit dieſen That- ſachen aber ſollte dem revolutionären Princip nicht erſpart werden. Es iſt aber ſehr nothwendig, ſich über das klar zu ſein, was wir hier als die Thatſachen bezeichnen, welche der Revolution entgegentraten. Dieſe Thatſachen waren nichts anderes, als die Macht und die Intereſſen der hiſtoriſchen Zuſtände im Innern Frankreichs, die recht- liche und faktiſche Herrſchaft des Adels auf dem flachen Lande, und der Zünfte und Innungen in den Städten. Die letzteren hatten unter Turgots Miniſterium ihren erſten Kampf zu beſtehen, und ſiegten; ſie vernichteten mit dem Edikt von 1776 über die Gewerbefreiheit auch den Miniſter, der ſie im Namen der phyſiokratiſchen Theorie durchführen wollte. Die erſteren waren bis zur Revolution gar nicht angegriffen. Das Princip der Freiheit und Gleichheit hob nun beide allerdings grundſätzlich auf, und die Nacht des vierten Auguſts 1789 ſprach dieſe grundſätzliche Aufhebung aus. Allein daß damit erſt der Anfang der geſellſchaftlichen Umgeſtaltung gegeben ſei, darüber war ſich alles klar. Bei aller Anerkennung der Freiheit blieb die materielle und zum Theil auch traditionelle Macht in den ſtändiſchen Elementen, dem Adel, der Geiſtlichkeit, den ſtädtiſchen Patriziern. Hätte das Princip der Freiheit die Selbſtverwaltung in Frankreich erzeugt, wie ſie in England beſtand, ſo wäre es eben ſelbſt vor der Hand ein Princip geblieben. Das fühlte man ſchon mit vollkommener Deutlichkeit im Jahre 1789, mehr noch im Jahre 1790.

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 391. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/415>, abgerufen am 20.04.2024.