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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865.

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verwaltung ist durch und durch, und namentlich in der Wahl ihrer Organe
von jedem Einfluß des Staats unabhängig und die ganze Controle
ihrer Thätigkeit steht nur dem Gemeindekörper selbst zu. Es ist kein
Zweifel, daß darin allerdings die Elemente der Herrschaft der Sonder-
interessen über das Gesammtinteresse, der Ausbreitung der Indolenz,
die gerade in örtlichen Lebensverhältnissen sich so leicht erzeugt, gegeben
sind, ohne doch nur auf dem Continent in der sittlichen und amtlichen
Funktion, in der Thätigkeit und Kraft der Staatsorgane ihr Gegen-
gewicht zu finden. Aber hier ist auch der Punkt, wo sich das ganze
Verwaltungsleben Englands von dem des Continents am bestimmtesten
trennt. Englands Volk traut sich selber die Kraft zu, jene Ge-
fahren der örtlichen Selbstverwaltung durch sich selbst, ohne die Hülfe
des selbstthätigen Organes der Gesammtinteressen, der Staatsgewalt,
zu überwinden; und es hat diese Kraft. Es ist in jedem Einzelnen
weit genug in seiner bürgerlichen Bildung, um dieser Staatsgewalt
und ihrer eigenthümlichen Funktion in seiner Selbstverwaltung entbehren
zu können. Ohne das Volk Englands wäre die letztere ein Verderben
für den Staat; aber darum ist sie in Organismus und Recht zuletzt
auch nur durch die Natur dieses Volkes begreiflich, wie sie durch eben
diese erst ihren Segen entfaltet.

b) Frankreichs Municipalwesen.

Obwohl der gegenwärtige Organismus der örtlichen Selbstverwal-
tung in Frankreich, sein Recht und seine äußere Gestalt wie der ganze
Staat durch die plötzlichen und durchgreifenden Bewegungen der Revo-
lution empfangen hat, so muß man sich doch wohl hüten, zu glauben, daß
auf irgend einem Punkte die neue Ordnung der Dinge ohne inneren und
organischen Zusammenhang mit der früheren Entwicklung gestanden wären.
In aller tiefen Verschiedenheit lebt doch der gemeinsame Kern der Indivi-
dualität Frankreichs. Es kommt darauf an, sie auch hier wiederzufinden.

Vor der Revolution war der Zustand des Gemeindewesens in
Frankreich dem des deutschen Reichs sehr ähnlich. Auf der einen Seite
war die alte Dorfschaft fast allenthalben in der Herrschaft untergegangen,
und der Herr war Inhaber der gesammten örtlichen Verwaltung, die
daher zwar gegenüber dem Staate als Selbstverwaltung erschien, aber
gegenüber den Angehörigen der Herrschaft, den frühern Bauern und
den alten Leibeigenen in der That eine örtliche Despotie in Abgaben,
Rechtspflege und Polizei war. Auf der andern Seite hatte das gewerb-
liche Leben die Stadtgemeinde gegründet, und durch dieselbe den dritten
Stand. Hier gab es principiell eine Selbstverwaltung, aber in der
Wirklichkeit war sie eben so wie in Deutschland bereits in die Hände

verwaltung iſt durch und durch, und namentlich in der Wahl ihrer Organe
von jedem Einfluß des Staats unabhängig und die ganze Controle
ihrer Thätigkeit ſteht nur dem Gemeindekörper ſelbſt zu. Es iſt kein
Zweifel, daß darin allerdings die Elemente der Herrſchaft der Sonder-
intereſſen über das Geſammtintereſſe, der Ausbreitung der Indolenz,
die gerade in örtlichen Lebensverhältniſſen ſich ſo leicht erzeugt, gegeben
ſind, ohne doch nur auf dem Continent in der ſittlichen und amtlichen
Funktion, in der Thätigkeit und Kraft der Staatsorgane ihr Gegen-
gewicht zu finden. Aber hier iſt auch der Punkt, wo ſich das ganze
Verwaltungsleben Englands von dem des Continents am beſtimmteſten
trennt. Englands Volk traut ſich ſelber die Kraft zu, jene Ge-
fahren der örtlichen Selbſtverwaltung durch ſich ſelbſt, ohne die Hülfe
des ſelbſtthätigen Organes der Geſammtintereſſen, der Staatsgewalt,
zu überwinden; und es hat dieſe Kraft. Es iſt in jedem Einzelnen
weit genug in ſeiner bürgerlichen Bildung, um dieſer Staatsgewalt
und ihrer eigenthümlichen Funktion in ſeiner Selbſtverwaltung entbehren
zu können. Ohne das Volk Englands wäre die letztere ein Verderben
für den Staat; aber darum iſt ſie in Organismus und Recht zuletzt
auch nur durch die Natur dieſes Volkes begreiflich, wie ſie durch eben
dieſe erſt ihren Segen entfaltet.

b) Frankreichs Municipalweſen.

Obwohl der gegenwärtige Organismus der örtlichen Selbſtverwal-
tung in Frankreich, ſein Recht und ſeine äußere Geſtalt wie der ganze
Staat durch die plötzlichen und durchgreifenden Bewegungen der Revo-
lution empfangen hat, ſo muß man ſich doch wohl hüten, zu glauben, daß
auf irgend einem Punkte die neue Ordnung der Dinge ohne inneren und
organiſchen Zuſammenhang mit der früheren Entwicklung geſtanden wären.
In aller tiefen Verſchiedenheit lebt doch der gemeinſame Kern der Indivi-
dualität Frankreichs. Es kommt darauf an, ſie auch hier wiederzufinden.

Vor der Revolution war der Zuſtand des Gemeindeweſens in
Frankreich dem des deutſchen Reichs ſehr ähnlich. Auf der einen Seite
war die alte Dorfſchaft faſt allenthalben in der Herrſchaft untergegangen,
und der Herr war Inhaber der geſammten örtlichen Verwaltung, die
daher zwar gegenüber dem Staate als Selbſtverwaltung erſchien, aber
gegenüber den Angehörigen der Herrſchaft, den frühern Bauern und
den alten Leibeigenen in der That eine örtliche Deſpotie in Abgaben,
Rechtspflege und Polizei war. Auf der andern Seite hatte das gewerb-
liche Leben die Stadtgemeinde gegründet, und durch dieſelbe den dritten
Stand. Hier gab es principiell eine Selbſtverwaltung, aber in der
Wirklichkeit war ſie eben ſo wie in Deutſchland bereits in die Hände

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[476/0500] verwaltung iſt durch und durch, und namentlich in der Wahl ihrer Organe von jedem Einfluß des Staats unabhängig und die ganze Controle ihrer Thätigkeit ſteht nur dem Gemeindekörper ſelbſt zu. Es iſt kein Zweifel, daß darin allerdings die Elemente der Herrſchaft der Sonder- intereſſen über das Geſammtintereſſe, der Ausbreitung der Indolenz, die gerade in örtlichen Lebensverhältniſſen ſich ſo leicht erzeugt, gegeben ſind, ohne doch nur auf dem Continent in der ſittlichen und amtlichen Funktion, in der Thätigkeit und Kraft der Staatsorgane ihr Gegen- gewicht zu finden. Aber hier iſt auch der Punkt, wo ſich das ganze Verwaltungsleben Englands von dem des Continents am beſtimmteſten trennt. Englands Volk traut ſich ſelber die Kraft zu, jene Ge- fahren der örtlichen Selbſtverwaltung durch ſich ſelbſt, ohne die Hülfe des ſelbſtthätigen Organes der Geſammtintereſſen, der Staatsgewalt, zu überwinden; und es hat dieſe Kraft. Es iſt in jedem Einzelnen weit genug in ſeiner bürgerlichen Bildung, um dieſer Staatsgewalt und ihrer eigenthümlichen Funktion in ſeiner Selbſtverwaltung entbehren zu können. Ohne das Volk Englands wäre die letztere ein Verderben für den Staat; aber darum iſt ſie in Organismus und Recht zuletzt auch nur durch die Natur dieſes Volkes begreiflich, wie ſie durch eben dieſe erſt ihren Segen entfaltet. b) Frankreichs Municipalweſen. Obwohl der gegenwärtige Organismus der örtlichen Selbſtverwal- tung in Frankreich, ſein Recht und ſeine äußere Geſtalt wie der ganze Staat durch die plötzlichen und durchgreifenden Bewegungen der Revo- lution empfangen hat, ſo muß man ſich doch wohl hüten, zu glauben, daß auf irgend einem Punkte die neue Ordnung der Dinge ohne inneren und organiſchen Zuſammenhang mit der früheren Entwicklung geſtanden wären. In aller tiefen Verſchiedenheit lebt doch der gemeinſame Kern der Indivi- dualität Frankreichs. Es kommt darauf an, ſie auch hier wiederzufinden. Vor der Revolution war der Zuſtand des Gemeindeweſens in Frankreich dem des deutſchen Reichs ſehr ähnlich. Auf der einen Seite war die alte Dorfſchaft faſt allenthalben in der Herrſchaft untergegangen, und der Herr war Inhaber der geſammten örtlichen Verwaltung, die daher zwar gegenüber dem Staate als Selbſtverwaltung erſchien, aber gegenüber den Angehörigen der Herrſchaft, den frühern Bauern und den alten Leibeigenen in der That eine örtliche Deſpotie in Abgaben, Rechtspflege und Polizei war. Auf der andern Seite hatte das gewerb- liche Leben die Stadtgemeinde gegründet, und durch dieſelbe den dritten Stand. Hier gab es principiell eine Selbſtverwaltung, aber in der Wirklichkeit war ſie eben ſo wie in Deutſchland bereits in die Hände

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 476. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/500>, abgerufen am 25.04.2024.