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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865.

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Gesetz vom 8. Mai 1855 hat hier sehr scharfe Controle ausgeübt. Nur
Paris und Lyon sind etwas freier. Das ist das, was man in Frank-
reich Gemeindeverfassung nennt, und weßhalb die französische Sprache
das Wort Selbstverwaltung nicht einmal übersetzen kann. Und daraus
ergibt sich dann auch das zweite Verhältniß. Damit nicht etwa außer-
halb
der Gemeinde eine Selbstverwaltung durch Verwaltungsgemeinden
entstehe, sind alle örtlichen Verwaltungsgebiete nicht wie in England
selbständig, sondern Theil der Gemeinde. Die Ortsgemeinde ist
die Einheit der Aufgaben der Verwaltungsgemeinde. Dahin gehört
namentlich die kirchliche Verwaltung mit den Kirchen und Kirchhöfen,
die Schule, die freilich eigentlich nur unter dem Maire steht, die Com-
municationsmittel
, so weit sie innerhalb der Commune liegen.
Das Armenwesen dagegen ist unter den Bureaux de bienfaisance
wieder eine Staatsanstalt, deren leitende Organe vom Prefet ernannt
werden, gerade wie die Krankenhäuser; die Ordnung derselben ist durch
die Gesetze vom 31. Oktober 1821 und 8. Februar 1823 festgestellt.
Die ganze Summe der Rechte der Selbstverwaltung ist somit auf ihrem
eigensten Gebiete der eigenen Thätigkeit des Staatsbürgerthums genommen
und von der ersteren ist auch der örtlichen Selbstverwaltung nichts übrig
geblieben, das an sie erinnerte, als das Recht des Beschlusses über die
Verwaltung des Privateigenthums der Gemeinde, welcher selbst noch
wieder unter der unbeschränkten Genehmigung der amtlichen Stelle steht!

c) Deutschlands Gemeindewesen.

Vielleicht bei keinem Theile der ganzen Staatslehre entbehren wir
in der deutschen Wissenschaft so sehr den freien, über die örtlichen
Gränzen und die innern Besonderheiten des eigentlich deutschen Rechts
hinausgehenden Blick, als in dem Gebiete, welches wir das deutsche
Gemeindewesen nennen. Bei aller Sorgfalt, mit welcher auch einzelne
Theile dieses Gebietes behandelt sind, und bei allem Eifer für eine
freie Entwicklung desselben müssen wir daher gestehen, daß die Lehre
vom Gemeinderecht in der deutschen Staatsrechtslehre der unvollkommenste
und unklarste Theil der letzteren, ja fast ganz ohne freien innern Zu-
sammenhang mit dem Leben des Volks aufgefaßt ist, weßhalb denn
auch nirgends ein auch nur annähernd richtiges Bild desselben gegeben
ist. Die ganze Gemeindelehre der deutschen Theorie ist in der That
nichts als die Darstellung des städtischen Gemeinderechts, und zwar auch
nur, so weit die verschiedenen Stadtrechte unter einander und mit
dem Landgemeinderecht übereinstimmen. Die einzelnen örtlichen Ver-
fassungs- und Verwaltungsordnungen der Gemeinden sind zwar trefflich
genug dargestellt; allein eine Reihe von Gründen, die sich aus dem

Geſetz vom 8. Mai 1855 hat hier ſehr ſcharfe Controle ausgeübt. Nur
Paris und Lyon ſind etwas freier. Das iſt das, was man in Frank-
reich Gemeindeverfaſſung nennt, und weßhalb die franzöſiſche Sprache
das Wort Selbſtverwaltung nicht einmal überſetzen kann. Und daraus
ergibt ſich dann auch das zweite Verhältniß. Damit nicht etwa außer-
halb
der Gemeinde eine Selbſtverwaltung durch Verwaltungsgemeinden
entſtehe, ſind alle örtlichen Verwaltungsgebiete nicht wie in England
ſelbſtändig, ſondern Theil der Gemeinde. Die Ortsgemeinde iſt
die Einheit der Aufgaben der Verwaltungsgemeinde. Dahin gehört
namentlich die kirchliche Verwaltung mit den Kirchen und Kirchhöfen,
die Schule, die freilich eigentlich nur unter dem Maire ſteht, die Com-
municationsmittel
, ſo weit ſie innerhalb der Commune liegen.
Das Armenweſen dagegen iſt unter den Bureaux de bienfaisance
wieder eine Staatsanſtalt, deren leitende Organe vom Préfet ernannt
werden, gerade wie die Krankenhäuſer; die Ordnung derſelben iſt durch
die Geſetze vom 31. Oktober 1821 und 8. Februar 1823 feſtgeſtellt.
Die ganze Summe der Rechte der Selbſtverwaltung iſt ſomit auf ihrem
eigenſten Gebiete der eigenen Thätigkeit des Staatsbürgerthums genommen
und von der erſteren iſt auch der örtlichen Selbſtverwaltung nichts übrig
geblieben, das an ſie erinnerte, als das Recht des Beſchluſſes über die
Verwaltung des Privateigenthums der Gemeinde, welcher ſelbſt noch
wieder unter der unbeſchränkten Genehmigung der amtlichen Stelle ſteht!

c) Deutſchlands Gemeindeweſen.

Vielleicht bei keinem Theile der ganzen Staatslehre entbehren wir
in der deutſchen Wiſſenſchaft ſo ſehr den freien, über die örtlichen
Gränzen und die innern Beſonderheiten des eigentlich deutſchen Rechts
hinausgehenden Blick, als in dem Gebiete, welches wir das deutſche
Gemeindeweſen nennen. Bei aller Sorgfalt, mit welcher auch einzelne
Theile dieſes Gebietes behandelt ſind, und bei allem Eifer für eine
freie Entwicklung deſſelben müſſen wir daher geſtehen, daß die Lehre
vom Gemeinderecht in der deutſchen Staatsrechtslehre der unvollkommenſte
und unklarſte Theil der letzteren, ja faſt ganz ohne freien innern Zu-
ſammenhang mit dem Leben des Volks aufgefaßt iſt, weßhalb denn
auch nirgends ein auch nur annähernd richtiges Bild deſſelben gegeben
iſt. Die ganze Gemeindelehre der deutſchen Theorie iſt in der That
nichts als die Darſtellung des ſtädtiſchen Gemeinderechts, und zwar auch
nur, ſo weit die verſchiedenen Stadtrechte unter einander und mit
dem Landgemeinderecht übereinſtimmen. Die einzelnen örtlichen Ver-
faſſungs- und Verwaltungsordnungen der Gemeinden ſind zwar trefflich
genug dargeſtellt; allein eine Reihe von Gründen, die ſich aus dem

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[487/0511] Geſetz vom 8. Mai 1855 hat hier ſehr ſcharfe Controle ausgeübt. Nur Paris und Lyon ſind etwas freier. Das iſt das, was man in Frank- reich Gemeindeverfaſſung nennt, und weßhalb die franzöſiſche Sprache das Wort Selbſtverwaltung nicht einmal überſetzen kann. Und daraus ergibt ſich dann auch das zweite Verhältniß. Damit nicht etwa außer- halb der Gemeinde eine Selbſtverwaltung durch Verwaltungsgemeinden entſtehe, ſind alle örtlichen Verwaltungsgebiete nicht wie in England ſelbſtändig, ſondern Theil der Gemeinde. Die Ortsgemeinde iſt die Einheit der Aufgaben der Verwaltungsgemeinde. Dahin gehört namentlich die kirchliche Verwaltung mit den Kirchen und Kirchhöfen, die Schule, die freilich eigentlich nur unter dem Maire ſteht, die Com- municationsmittel, ſo weit ſie innerhalb der Commune liegen. Das Armenweſen dagegen iſt unter den Bureaux de bienfaisance wieder eine Staatsanſtalt, deren leitende Organe vom Préfet ernannt werden, gerade wie die Krankenhäuſer; die Ordnung derſelben iſt durch die Geſetze vom 31. Oktober 1821 und 8. Februar 1823 feſtgeſtellt. Die ganze Summe der Rechte der Selbſtverwaltung iſt ſomit auf ihrem eigenſten Gebiete der eigenen Thätigkeit des Staatsbürgerthums genommen und von der erſteren iſt auch der örtlichen Selbſtverwaltung nichts übrig geblieben, das an ſie erinnerte, als das Recht des Beſchluſſes über die Verwaltung des Privateigenthums der Gemeinde, welcher ſelbſt noch wieder unter der unbeſchränkten Genehmigung der amtlichen Stelle ſteht! c) Deutſchlands Gemeindeweſen. Vielleicht bei keinem Theile der ganzen Staatslehre entbehren wir in der deutſchen Wiſſenſchaft ſo ſehr den freien, über die örtlichen Gränzen und die innern Beſonderheiten des eigentlich deutſchen Rechts hinausgehenden Blick, als in dem Gebiete, welches wir das deutſche Gemeindeweſen nennen. Bei aller Sorgfalt, mit welcher auch einzelne Theile dieſes Gebietes behandelt ſind, und bei allem Eifer für eine freie Entwicklung deſſelben müſſen wir daher geſtehen, daß die Lehre vom Gemeinderecht in der deutſchen Staatsrechtslehre der unvollkommenſte und unklarſte Theil der letzteren, ja faſt ganz ohne freien innern Zu- ſammenhang mit dem Leben des Volks aufgefaßt iſt, weßhalb denn auch nirgends ein auch nur annähernd richtiges Bild deſſelben gegeben iſt. Die ganze Gemeindelehre der deutſchen Theorie iſt in der That nichts als die Darſtellung des ſtädtiſchen Gemeinderechts, und zwar auch nur, ſo weit die verſchiedenen Stadtrechte unter einander und mit dem Landgemeinderecht übereinſtimmen. Die einzelnen örtlichen Ver- faſſungs- und Verwaltungsordnungen der Gemeinden ſind zwar trefflich genug dargeſtellt; allein eine Reihe von Gründen, die ſich aus dem

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 487. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/511>, abgerufen am 24.04.2024.