Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865.

Bild:
<< vorherige Seite

Dazu aber muß man einen Schritt mit uns in das Wesen des
Staatslebens hineingehen. Es ist unmöglich, das Amt in seiner Be-
deutung darzulegen, wenn man nicht die bestimmt formulirten Elemente
aufstellt, in denen es sich bewegt.

Das Leben des Staats ist nicht das Leben der Gesellschaft, und
eben so wenig ist es das Leben der Volkswirthschaft. Es ist selbst nur
ein wesentliches Element der Menschheit. Es enthält vielmehr nur
Gesellschaft und Volkswirthschaft, aber es beherrscht sie nicht ganz mit
seinem Willen. Die Gesellschaftsordnungen und die Volkswirthschaft
haben Gesetze, welche nicht weniger unabänderlich sind, wie die der Natur.
Beide leben zunächst für sich; aber sie greifen auf allen Punkten in
einander. Das Moment, welches sie verbindet, ist der Besitz, und die
lebendige Bewegung, welche der Besitz erzeugt, nennen wir das Interesse.

Ohne den Begriff und die Macht des Interesses ist das Wesen und
die organische Funktion des Amtes nicht zu verstehen.

Die Gesellschaftslehre zeigt uns nämlich, daß die Verfassung eines
Staates die Form ist, in welcher die gegebene Gesellschaftsordnung den
Willen des Staats sich unterordnet. Das ist das naturgemäße und
darum unwandelbare Gesetz der Verfassungsbildung. Allein an diese
Herrschaft der Gesellschaft über die Staatsordnung knüpft sich sofort das
zweite Gesetz, das die Gesellschaftslehre darlegt, das natürliche Streben
nämlich, vermöge der Herrschaft über den Staat das Interesse der
herrschenden Klasse durch die Staatsgewalt zur Verwirklichung zu bringen.

Nun ist es das innerste Wesen des Staats, als die höchste Form
des persönlichen Lebens, seine eigene Vollendung niemals in der höchsten
Entwicklung eines Theiles der Gemeinschaft, also auch nicht in der einer
herrschenden Gesellschaftsklasse zu finden. Der Staat muß vielmehr be-
ständig die Entwicklung der Gemeinschaft als eines Ganzen vertreten.
Auch die niedere und beherrschte Klasse aber gehört nun diesem Ganzen,
ja sie bildet die größere Masse dieses Ganzen. Und es ergibt sich da-
her, daß er die Interessen der niederen beherrschten Gesellschaftsklasse
in dem Maße mehr vertritt, in welchem sie durch die herrschende Klasse
mehr unterworfen und gefährdet sind. Das ist in der Theorie nun
zwar leicht aufgestellt, aber im wirklichen Leben ist das eine höchst
ernste und schwierige Sache. Denn es enthalten jene Sätze nicht allein
einen furchtbaren Kampf um die Interessen, in welchen der Staat stets
auf der Seite des schwächeren Theiles steht, sondern sie zeigen uns eben
auf Grundlage des Obigen ein zweites Verhältniß, welches eben erst
recht das Wesen des Amts bestimmt. Der Staat ist nämlich wie ge-
sagt, in seiner Verfassung von der Gesellschaftsordnung abhängig; anderer-
seits ist das Amtswesen desselben Staats wieder von der auf diese Weise

Dazu aber muß man einen Schritt mit uns in das Weſen des
Staatslebens hineingehen. Es iſt unmöglich, das Amt in ſeiner Be-
deutung darzulegen, wenn man nicht die beſtimmt formulirten Elemente
aufſtellt, in denen es ſich bewegt.

Das Leben des Staats iſt nicht das Leben der Geſellſchaft, und
eben ſo wenig iſt es das Leben der Volkswirthſchaft. Es iſt ſelbſt nur
ein weſentliches Element der Menſchheit. Es enthält vielmehr nur
Geſellſchaft und Volkswirthſchaft, aber es beherrſcht ſie nicht ganz mit
ſeinem Willen. Die Geſellſchaftsordnungen und die Volkswirthſchaft
haben Geſetze, welche nicht weniger unabänderlich ſind, wie die der Natur.
Beide leben zunächſt für ſich; aber ſie greifen auf allen Punkten in
einander. Das Moment, welches ſie verbindet, iſt der Beſitz, und die
lebendige Bewegung, welche der Beſitz erzeugt, nennen wir das Intereſſe.

Ohne den Begriff und die Macht des Intereſſes iſt das Weſen und
die organiſche Funktion des Amtes nicht zu verſtehen.

Die Geſellſchaftslehre zeigt uns nämlich, daß die Verfaſſung eines
Staates die Form iſt, in welcher die gegebene Geſellſchaftsordnung den
Willen des Staats ſich unterordnet. Das iſt das naturgemäße und
darum unwandelbare Geſetz der Verfaſſungsbildung. Allein an dieſe
Herrſchaft der Geſellſchaft über die Staatsordnung knüpft ſich ſofort das
zweite Geſetz, das die Geſellſchaftslehre darlegt, das natürliche Streben
nämlich, vermöge der Herrſchaft über den Staat das Intereſſe der
herrſchenden Klaſſe durch die Staatsgewalt zur Verwirklichung zu bringen.

Nun iſt es das innerſte Weſen des Staats, als die höchſte Form
des perſönlichen Lebens, ſeine eigene Vollendung niemals in der höchſten
Entwicklung eines Theiles der Gemeinſchaft, alſo auch nicht in der einer
herrſchenden Geſellſchaftsklaſſe zu finden. Der Staat muß vielmehr be-
ſtändig die Entwicklung der Gemeinſchaft als eines Ganzen vertreten.
Auch die niedere und beherrſchte Klaſſe aber gehört nun dieſem Ganzen,
ja ſie bildet die größere Maſſe dieſes Ganzen. Und es ergibt ſich da-
her, daß er die Intereſſen der niederen beherrſchten Geſellſchaftsklaſſe
in dem Maße mehr vertritt, in welchem ſie durch die herrſchende Klaſſe
mehr unterworfen und gefährdet ſind. Das iſt in der Theorie nun
zwar leicht aufgeſtellt, aber im wirklichen Leben iſt das eine höchſt
ernſte und ſchwierige Sache. Denn es enthalten jene Sätze nicht allein
einen furchtbaren Kampf um die Intereſſen, in welchen der Staat ſtets
auf der Seite des ſchwächeren Theiles ſteht, ſondern ſie zeigen uns eben
auf Grundlage des Obigen ein zweites Verhältniß, welches eben erſt
recht das Weſen des Amts beſtimmt. Der Staat iſt nämlich wie ge-
ſagt, in ſeiner Verfaſſung von der Geſellſchaftsordnung abhängig; anderer-
ſeits iſt das Amtsweſen deſſelben Staats wieder von der auf dieſe Weiſe

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <pb facs="#f0309" n="285"/>
                <p>Dazu aber <hi rendition="#g">muß</hi> man einen Schritt mit uns in das We&#x017F;en des<lb/>
Staatslebens hineingehen. Es i&#x017F;t unmöglich, das Amt in &#x017F;einer Be-<lb/>
deutung darzulegen, wenn man nicht die be&#x017F;timmt formulirten Elemente<lb/>
auf&#x017F;tellt, in denen es &#x017F;ich bewegt.</p><lb/>
                <p>Das Leben des Staats <hi rendition="#g">i&#x017F;t</hi> nicht das Leben der Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft, und<lb/>
eben &#x017F;o wenig <hi rendition="#g">i&#x017F;t</hi> es das Leben der Volkswirth&#x017F;chaft. Es i&#x017F;t &#x017F;elb&#x017F;t nur<lb/>
ein we&#x017F;entliches Element der Men&#x017F;chheit. Es <hi rendition="#g">enthält</hi> vielmehr nur<lb/>
Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft und Volkswirth&#x017F;chaft, aber es beherr&#x017F;cht &#x017F;ie nicht ganz mit<lb/>
&#x017F;einem Willen. Die Ge&#x017F;ell&#x017F;chaftsordnungen und die Volkswirth&#x017F;chaft<lb/>
haben Ge&#x017F;etze, welche nicht weniger unabänderlich &#x017F;ind, wie die der Natur.<lb/>
Beide leben zunäch&#x017F;t für &#x017F;ich; aber &#x017F;ie greifen auf allen Punkten in<lb/>
einander. Das Moment, welches &#x017F;ie verbindet, i&#x017F;t der Be&#x017F;itz, und die<lb/>
lebendige Bewegung, welche der Be&#x017F;itz erzeugt, nennen wir das <hi rendition="#g">Intere&#x017F;&#x017F;e</hi>.</p><lb/>
                <p>Ohne den Begriff und die Macht des Intere&#x017F;&#x017F;es i&#x017F;t das We&#x017F;en und<lb/>
die organi&#x017F;che Funktion des Amtes nicht zu ver&#x017F;tehen.</p><lb/>
                <p>Die Ge&#x017F;ell&#x017F;chaftslehre zeigt uns nämlich, daß die Verfa&#x017F;&#x017F;ung eines<lb/>
Staates die Form i&#x017F;t, in welcher die gegebene Ge&#x017F;ell&#x017F;chaftsordnung den<lb/>
Willen des Staats &#x017F;ich unterordnet. Das i&#x017F;t das naturgemäße und<lb/>
darum unwandelbare Ge&#x017F;etz der Verfa&#x017F;&#x017F;ungsbildung. Allein an die&#x017F;e<lb/>
Herr&#x017F;chaft der Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft über die Staatsordnung knüpft &#x017F;ich &#x017F;ofort das<lb/>
zweite Ge&#x017F;etz, das die Ge&#x017F;ell&#x017F;chaftslehre darlegt, das natürliche Streben<lb/>
nämlich, vermöge der Herr&#x017F;chaft über den Staat das <hi rendition="#g">Intere&#x017F;&#x017F;e</hi> der<lb/>
herr&#x017F;chenden Kla&#x017F;&#x017F;e durch die Staatsgewalt zur Verwirklichung zu bringen.</p><lb/>
                <p>Nun i&#x017F;t es das inner&#x017F;te We&#x017F;en des Staats, als die höch&#x017F;te Form<lb/>
des per&#x017F;önlichen Lebens, &#x017F;eine eigene Vollendung niemals in der höch&#x017F;ten<lb/>
Entwicklung eines Theiles der Gemein&#x017F;chaft, al&#x017F;o auch nicht in der einer<lb/>
herr&#x017F;chenden Ge&#x017F;ell&#x017F;chaftskla&#x017F;&#x017F;e zu finden. Der Staat muß vielmehr be-<lb/>
&#x017F;tändig die Entwicklung der Gemein&#x017F;chaft als eines Ganzen vertreten.<lb/>
Auch die niedere und beherr&#x017F;chte Kla&#x017F;&#x017F;e aber gehört nun die&#x017F;em Ganzen,<lb/>
ja &#x017F;ie bildet die größere Ma&#x017F;&#x017F;e die&#x017F;es Ganzen. Und es ergibt &#x017F;ich da-<lb/>
her, daß er die Intere&#x017F;&#x017F;en der niederen beherr&#x017F;chten Ge&#x017F;ell&#x017F;chaftskla&#x017F;&#x017F;e<lb/>
in dem Maße mehr vertritt, in welchem &#x017F;ie durch die herr&#x017F;chende Kla&#x017F;&#x017F;e<lb/>
mehr unterworfen und gefährdet &#x017F;ind. Das i&#x017F;t in der Theorie nun<lb/>
zwar leicht aufge&#x017F;tellt, aber im wirklichen Leben i&#x017F;t das eine höch&#x017F;t<lb/>
ern&#x017F;te und &#x017F;chwierige Sache. Denn es enthalten jene Sätze nicht allein<lb/>
einen furchtbaren Kampf um die Intere&#x017F;&#x017F;en, in welchen der Staat &#x017F;tets<lb/>
auf der Seite des &#x017F;chwächeren Theiles &#x017F;teht, &#x017F;ondern &#x017F;ie zeigen uns eben<lb/>
auf Grundlage des Obigen ein zweites Verhältniß, welches eben er&#x017F;t<lb/>
recht das We&#x017F;en des Amts be&#x017F;timmt. Der Staat i&#x017F;t nämlich wie ge-<lb/>
&#x017F;agt, in &#x017F;einer Verfa&#x017F;&#x017F;ung von der Ge&#x017F;ell&#x017F;chaftsordnung abhängig; anderer-<lb/>
&#x017F;eits i&#x017F;t das Amtswe&#x017F;en de&#x017F;&#x017F;elben Staats wieder von der auf die&#x017F;e Wei&#x017F;e<lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[285/0309] Dazu aber muß man einen Schritt mit uns in das Weſen des Staatslebens hineingehen. Es iſt unmöglich, das Amt in ſeiner Be- deutung darzulegen, wenn man nicht die beſtimmt formulirten Elemente aufſtellt, in denen es ſich bewegt. Das Leben des Staats iſt nicht das Leben der Geſellſchaft, und eben ſo wenig iſt es das Leben der Volkswirthſchaft. Es iſt ſelbſt nur ein weſentliches Element der Menſchheit. Es enthält vielmehr nur Geſellſchaft und Volkswirthſchaft, aber es beherrſcht ſie nicht ganz mit ſeinem Willen. Die Geſellſchaftsordnungen und die Volkswirthſchaft haben Geſetze, welche nicht weniger unabänderlich ſind, wie die der Natur. Beide leben zunächſt für ſich; aber ſie greifen auf allen Punkten in einander. Das Moment, welches ſie verbindet, iſt der Beſitz, und die lebendige Bewegung, welche der Beſitz erzeugt, nennen wir das Intereſſe. Ohne den Begriff und die Macht des Intereſſes iſt das Weſen und die organiſche Funktion des Amtes nicht zu verſtehen. Die Geſellſchaftslehre zeigt uns nämlich, daß die Verfaſſung eines Staates die Form iſt, in welcher die gegebene Geſellſchaftsordnung den Willen des Staats ſich unterordnet. Das iſt das naturgemäße und darum unwandelbare Geſetz der Verfaſſungsbildung. Allein an dieſe Herrſchaft der Geſellſchaft über die Staatsordnung knüpft ſich ſofort das zweite Geſetz, das die Geſellſchaftslehre darlegt, das natürliche Streben nämlich, vermöge der Herrſchaft über den Staat das Intereſſe der herrſchenden Klaſſe durch die Staatsgewalt zur Verwirklichung zu bringen. Nun iſt es das innerſte Weſen des Staats, als die höchſte Form des perſönlichen Lebens, ſeine eigene Vollendung niemals in der höchſten Entwicklung eines Theiles der Gemeinſchaft, alſo auch nicht in der einer herrſchenden Geſellſchaftsklaſſe zu finden. Der Staat muß vielmehr be- ſtändig die Entwicklung der Gemeinſchaft als eines Ganzen vertreten. Auch die niedere und beherrſchte Klaſſe aber gehört nun dieſem Ganzen, ja ſie bildet die größere Maſſe dieſes Ganzen. Und es ergibt ſich da- her, daß er die Intereſſen der niederen beherrſchten Geſellſchaftsklaſſe in dem Maße mehr vertritt, in welchem ſie durch die herrſchende Klaſſe mehr unterworfen und gefährdet ſind. Das iſt in der Theorie nun zwar leicht aufgeſtellt, aber im wirklichen Leben iſt das eine höchſt ernſte und ſchwierige Sache. Denn es enthalten jene Sätze nicht allein einen furchtbaren Kampf um die Intereſſen, in welchen der Staat ſtets auf der Seite des ſchwächeren Theiles ſteht, ſondern ſie zeigen uns eben auf Grundlage des Obigen ein zweites Verhältniß, welches eben erſt recht das Weſen des Amts beſtimmt. Der Staat iſt nämlich wie ge- ſagt, in ſeiner Verfaſſung von der Geſellſchaftsordnung abhängig; anderer- ſeits iſt das Amtsweſen deſſelben Staats wieder von der auf dieſe Weiſe

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/309
Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 285. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/309>, abgerufen am 20.04.2024.