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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865.

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natürlich damit weiter zu kommen, da man im Grunde weder das
englische noch das französische Princip in seiner Reinheit anerkennen
wollte, ja es sogar meistens nicht einmal konnte. Es ist eine nutzlose
Frage, wie viel Schuld an der gegenseitigen Entfremdung von beiden
Seiten getragen ward. Auch ist es nicht unsere Sache, hier weitere
Untersuchungen anzustellen. Gewiß ist nur, daß dieser Gegensatz nicht
ausgetragen ist, und auch nicht ausgetragen werden wird, bis die
wahre Idee der staatlichen Verwaltung und ihrer großen, nur durch
sie zu vollziehenden Funktion vollständig anerkannt sein wird.

Die zweite Thatsache ist die, daß die staatliche Verwaltung neben
den Verwaltungskörpern das System der Räthe nach französischem
Vorgang aufnahm. Aber freilich konnte dasselbe hier um so weniger
entwickelt werden, als die Beamteten selbst in Deutschland eine all-
gemeine und tüchtige Bildung genießen, und daher nur für ganz
bestimmte, fachmännische Fragen wirklich eines eigenen Rathes be-
durften. Wir sehen daher auch in Deutschland solche Räthe, aber
nur für ganz spezielle Verhältnisse, namentlich für das Gesundheits-
wesen und das Unterrichtswesen entstehen, jedoch ohne Gleichartigkeit
in den verschiedenen Staaten. Dagegen ist das System der Handels-
kammern
ziemlich allgemein ausgebildet, während die Vertretung der
Agrikultur meist auf dem Vereinswesen beruht.

Die dritte Thatsache endlich ist das fast vollständige faktische Ver-
schwinden des Versammlungs- und Petitionsrechts, auch da wo es
anerkannt und unbestritten feststeht. In der That ist für dasselbe bei
der großen Ausbildung der Selbstverwaltung gar kein rechter Raum
übrig, da alle Fragen durch die Organe der letztern ohnehin auf ord-
nungsmäßigem Wege erledigt werden können. Daher werden jene
Rechte auch wesentlich als politische angesehen, und als solche theils
gefordert, theils bekämpft. Es ist mit Sicherheit anzunehmen, daß
dieselben auch künftig in allen administrativen Angelegenheiten nur eine
höchst untergeordnete Rolle spielen werden.

Dagegen erklärt sich viertens durch dieß, auf allen Punkten vor-
handene Zusammenwirken des amtlichen Systems mit der Selbstver-
waltung das Princip, daß die letztere dem ersteren Gehorsam zu
leisten und sich seiner Oberaufsicht unterzuordnen hat, während anderer-
seits der Mangel an der Ausbildung des Klagerechts und die Ueber-
tragung der französischen justice administrative als die eigentliche Ge-
fährdung des Princips der Selbstverwaltung in Deutschland angesehen
werden muß. Andererseits wird aber hier nie das englische Princip
in seiner Reinheit mit seiner vollen Indifferenz der Minister gegen die
Verwaltungszustände dieser Körper durchgreifen, da der Grundsatz der

natürlich damit weiter zu kommen, da man im Grunde weder das
engliſche noch das franzöſiſche Princip in ſeiner Reinheit anerkennen
wollte, ja es ſogar meiſtens nicht einmal konnte. Es iſt eine nutzloſe
Frage, wie viel Schuld an der gegenſeitigen Entfremdung von beiden
Seiten getragen ward. Auch iſt es nicht unſere Sache, hier weitere
Unterſuchungen anzuſtellen. Gewiß iſt nur, daß dieſer Gegenſatz nicht
ausgetragen iſt, und auch nicht ausgetragen werden wird, bis die
wahre Idee der ſtaatlichen Verwaltung und ihrer großen, nur durch
ſie zu vollziehenden Funktion vollſtändig anerkannt ſein wird.

Die zweite Thatſache iſt die, daß die ſtaatliche Verwaltung neben
den Verwaltungskörpern das Syſtem der Räthe nach franzöſiſchem
Vorgang aufnahm. Aber freilich konnte daſſelbe hier um ſo weniger
entwickelt werden, als die Beamteten ſelbſt in Deutſchland eine all-
gemeine und tüchtige Bildung genießen, und daher nur für ganz
beſtimmte, fachmänniſche Fragen wirklich eines eigenen Rathes be-
durften. Wir ſehen daher auch in Deutſchland ſolche Räthe, aber
nur für ganz ſpezielle Verhältniſſe, namentlich für das Geſundheits-
weſen und das Unterrichtsweſen entſtehen, jedoch ohne Gleichartigkeit
in den verſchiedenen Staaten. Dagegen iſt das Syſtem der Handels-
kammern
ziemlich allgemein ausgebildet, während die Vertretung der
Agrikultur meiſt auf dem Vereinsweſen beruht.

Die dritte Thatſache endlich iſt das faſt vollſtändige faktiſche Ver-
ſchwinden des Verſammlungs- und Petitionsrechts, auch da wo es
anerkannt und unbeſtritten feſtſteht. In der That iſt für daſſelbe bei
der großen Ausbildung der Selbſtverwaltung gar kein rechter Raum
übrig, da alle Fragen durch die Organe der letztern ohnehin auf ord-
nungsmäßigem Wege erledigt werden können. Daher werden jene
Rechte auch weſentlich als politiſche angeſehen, und als ſolche theils
gefordert, theils bekämpft. Es iſt mit Sicherheit anzunehmen, daß
dieſelben auch künftig in allen adminiſtrativen Angelegenheiten nur eine
höchſt untergeordnete Rolle ſpielen werden.

Dagegen erklärt ſich viertens durch dieß, auf allen Punkten vor-
handene Zuſammenwirken des amtlichen Syſtems mit der Selbſtver-
waltung das Princip, daß die letztere dem erſteren Gehorſam zu
leiſten und ſich ſeiner Oberaufſicht unterzuordnen hat, während anderer-
ſeits der Mangel an der Ausbildung des Klagerechts und die Ueber-
tragung der franzöſiſchen justice administrative als die eigentliche Ge-
fährdung des Princips der Selbſtverwaltung in Deutſchland angeſehen
werden muß. Andererſeits wird aber hier nie das engliſche Princip
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[404/0428] natürlich damit weiter zu kommen, da man im Grunde weder das engliſche noch das franzöſiſche Princip in ſeiner Reinheit anerkennen wollte, ja es ſogar meiſtens nicht einmal konnte. Es iſt eine nutzloſe Frage, wie viel Schuld an der gegenſeitigen Entfremdung von beiden Seiten getragen ward. Auch iſt es nicht unſere Sache, hier weitere Unterſuchungen anzuſtellen. Gewiß iſt nur, daß dieſer Gegenſatz nicht ausgetragen iſt, und auch nicht ausgetragen werden wird, bis die wahre Idee der ſtaatlichen Verwaltung und ihrer großen, nur durch ſie zu vollziehenden Funktion vollſtändig anerkannt ſein wird. Die zweite Thatſache iſt die, daß die ſtaatliche Verwaltung neben den Verwaltungskörpern das Syſtem der Räthe nach franzöſiſchem Vorgang aufnahm. Aber freilich konnte daſſelbe hier um ſo weniger entwickelt werden, als die Beamteten ſelbſt in Deutſchland eine all- gemeine und tüchtige Bildung genießen, und daher nur für ganz beſtimmte, fachmänniſche Fragen wirklich eines eigenen Rathes be- durften. Wir ſehen daher auch in Deutſchland ſolche Räthe, aber nur für ganz ſpezielle Verhältniſſe, namentlich für das Geſundheits- weſen und das Unterrichtsweſen entſtehen, jedoch ohne Gleichartigkeit in den verſchiedenen Staaten. Dagegen iſt das Syſtem der Handels- kammern ziemlich allgemein ausgebildet, während die Vertretung der Agrikultur meiſt auf dem Vereinsweſen beruht. Die dritte Thatſache endlich iſt das faſt vollſtändige faktiſche Ver- ſchwinden des Verſammlungs- und Petitionsrechts, auch da wo es anerkannt und unbeſtritten feſtſteht. In der That iſt für daſſelbe bei der großen Ausbildung der Selbſtverwaltung gar kein rechter Raum übrig, da alle Fragen durch die Organe der letztern ohnehin auf ord- nungsmäßigem Wege erledigt werden können. Daher werden jene Rechte auch weſentlich als politiſche angeſehen, und als ſolche theils gefordert, theils bekämpft. Es iſt mit Sicherheit anzunehmen, daß dieſelben auch künftig in allen adminiſtrativen Angelegenheiten nur eine höchſt untergeordnete Rolle ſpielen werden. Dagegen erklärt ſich viertens durch dieß, auf allen Punkten vor- handene Zuſammenwirken des amtlichen Syſtems mit der Selbſtver- waltung das Princip, daß die letztere dem erſteren Gehorſam zu leiſten und ſich ſeiner Oberaufſicht unterzuordnen hat, während anderer- ſeits der Mangel an der Ausbildung des Klagerechts und die Ueber- tragung der franzöſiſchen justice administrative als die eigentliche Ge- fährdung des Princips der Selbſtverwaltung in Deutſchland angeſehen werden muß. Andererſeits wird aber hier nie das engliſche Princip in ſeiner Reinheit mit ſeiner vollen Indifferenz der Miniſter gegen die Verwaltungszuſtände dieſer Körper durchgreifen, da der Grundſatz der

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 404. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/428>, abgerufen am 16.04.2024.