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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866.

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keine allgemeinen Regeln derselben mehr gibt, und daß die Behandlung
dieser Frage in der sogen. Polizeiwissenschaft nicht bloß an sich verkehrt
ist, sondern auch zu ganz falschen Vorstellungen Anlaß gibt. Es ist
nicht schwer, dieß nachzuweisen, wenn man sich nur von den Traditio-
nen des vorigen Jahrhunderts losmachen kann. Um aber den Stand-
punkt und das Recht unserer Zeit ganz klar zu machen, müssen wir
zuerst den Begriff der "Einwanderung" feststellen und ihn zu dem
Ende von dem der "Fremden" und dem der "Niederlassung" tren-
nen; und dann müssen wir ihn auf seine wahrhaft historische Basis
und die Elemente seiner organischen Entwicklung zurückführen. Es ist
nicht wohl möglich, sich über das wahre Wesen der Einwanderung un-
klar zu bleiben, wenn man das thut.

Begriff der Einwanderung.

Es ist kein Zweifel, daß wir unter Einwanderung weder bloß einen
zeitlichen Aufenthalt einer an einem Orte fremden Person, noch auch
den bloßen Wechsel des Aufenthalts, der juristisch als Domicil erscheint,
verstehen können. Die Einwanderung hat vielmehr zu ihrer ersten Vor-
aussetzung, der persönlichen, daß sie von einem Fremden geschehe.
Ein Fremder aber ist im weitesten Sinne des Wortes ein solcher, der
dem örtlichen Recht nicht unterworfen ist. Sie hat zu ihrer zweiten
Voraussetzung, daß der Aufenthalt durch den Lebenszweck des An-
kommenden bedingt werde; das ist ihre wirthschaftliche Seite. Sie macht
aber, wo sie vollzogen ist, den letztern zu einem Gliede der Gesammt-
heit, in welche er einwandert, das ist zu einem Angehörigen des Staats
und zu einem Mitgliede seiner gesellschaftlichen Ordnung. Wäh-
rend daher der Fremde nur örtlich und zeitlich in den Verband von
Staat und Gesellschaft tritt, der sich Niederlassende nur wirthschaft-
lich
ein Theil derselben wird, wird es der Einwandernde mit seinem
ganzen staatlichen und socialen Leben. Darin besteht das Wesen der
Einwanderung. Und eben dadurch ist es klar, daß dieselbe nicht ein-
seitig von ihm abhängig sein kann, sondern naturgemäß von Staat
und Gesellschaft abhängig ist. Wir reden daher von Fremden und
Fremdenrecht, von Niederlassungen und Niederlassungs-
recht
, und von Einwanderung und Einwanderungsrecht, und
es ist wohl einleuchtend, daß nicht bloß diese Rechte an sich sehr ver-
schieden sind, sondern auch in der Verwaltung eine wesentlich verschie-
dene Stellung einnehmen.

Da nun die Einwanderung, wie gesagt, wesentlich von dem neuen
Staat und seiner Gesellschaft abhängt, so ist es wohl klar, daß es

keine allgemeinen Regeln derſelben mehr gibt, und daß die Behandlung
dieſer Frage in der ſogen. Polizeiwiſſenſchaft nicht bloß an ſich verkehrt
iſt, ſondern auch zu ganz falſchen Vorſtellungen Anlaß gibt. Es iſt
nicht ſchwer, dieß nachzuweiſen, wenn man ſich nur von den Traditio-
nen des vorigen Jahrhunderts losmachen kann. Um aber den Stand-
punkt und das Recht unſerer Zeit ganz klar zu machen, müſſen wir
zuerſt den Begriff der „Einwanderung“ feſtſtellen und ihn zu dem
Ende von dem der „Fremden“ und dem der „Niederlaſſung“ tren-
nen; und dann müſſen wir ihn auf ſeine wahrhaft hiſtoriſche Baſis
und die Elemente ſeiner organiſchen Entwicklung zurückführen. Es iſt
nicht wohl möglich, ſich über das wahre Weſen der Einwanderung un-
klar zu bleiben, wenn man das thut.

Begriff der Einwanderung.

Es iſt kein Zweifel, daß wir unter Einwanderung weder bloß einen
zeitlichen Aufenthalt einer an einem Orte fremden Perſon, noch auch
den bloßen Wechſel des Aufenthalts, der juriſtiſch als Domicil erſcheint,
verſtehen können. Die Einwanderung hat vielmehr zu ihrer erſten Vor-
ausſetzung, der perſönlichen, daß ſie von einem Fremden geſchehe.
Ein Fremder aber iſt im weiteſten Sinne des Wortes ein ſolcher, der
dem örtlichen Recht nicht unterworfen iſt. Sie hat zu ihrer zweiten
Vorausſetzung, daß der Aufenthalt durch den Lebenszweck des An-
kommenden bedingt werde; das iſt ihre wirthſchaftliche Seite. Sie macht
aber, wo ſie vollzogen iſt, den letztern zu einem Gliede der Geſammt-
heit, in welche er einwandert, das iſt zu einem Angehörigen des Staats
und zu einem Mitgliede ſeiner geſellſchaftlichen Ordnung. Wäh-
rend daher der Fremde nur örtlich und zeitlich in den Verband von
Staat und Geſellſchaft tritt, der ſich Niederlaſſende nur wirthſchaft-
lich
ein Theil derſelben wird, wird es der Einwandernde mit ſeinem
ganzen ſtaatlichen und ſocialen Leben. Darin beſteht das Weſen der
Einwanderung. Und eben dadurch iſt es klar, daß dieſelbe nicht ein-
ſeitig von ihm abhängig ſein kann, ſondern naturgemäß von Staat
und Geſellſchaft abhängig iſt. Wir reden daher von Fremden und
Fremdenrecht, von Niederlaſſungen und Niederlaſſungs-
recht
, und von Einwanderung und Einwanderungsrecht, und
es iſt wohl einleuchtend, daß nicht bloß dieſe Rechte an ſich ſehr ver-
ſchieden ſind, ſondern auch in der Verwaltung eine weſentlich verſchie-
dene Stellung einnehmen.

Da nun die Einwanderung, wie geſagt, weſentlich von dem neuen
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[169/0191] keine allgemeinen Regeln derſelben mehr gibt, und daß die Behandlung dieſer Frage in der ſogen. Polizeiwiſſenſchaft nicht bloß an ſich verkehrt iſt, ſondern auch zu ganz falſchen Vorſtellungen Anlaß gibt. Es iſt nicht ſchwer, dieß nachzuweiſen, wenn man ſich nur von den Traditio- nen des vorigen Jahrhunderts losmachen kann. Um aber den Stand- punkt und das Recht unſerer Zeit ganz klar zu machen, müſſen wir zuerſt den Begriff der „Einwanderung“ feſtſtellen und ihn zu dem Ende von dem der „Fremden“ und dem der „Niederlaſſung“ tren- nen; und dann müſſen wir ihn auf ſeine wahrhaft hiſtoriſche Baſis und die Elemente ſeiner organiſchen Entwicklung zurückführen. Es iſt nicht wohl möglich, ſich über das wahre Weſen der Einwanderung un- klar zu bleiben, wenn man das thut. Begriff der Einwanderung. Es iſt kein Zweifel, daß wir unter Einwanderung weder bloß einen zeitlichen Aufenthalt einer an einem Orte fremden Perſon, noch auch den bloßen Wechſel des Aufenthalts, der juriſtiſch als Domicil erſcheint, verſtehen können. Die Einwanderung hat vielmehr zu ihrer erſten Vor- ausſetzung, der perſönlichen, daß ſie von einem Fremden geſchehe. Ein Fremder aber iſt im weiteſten Sinne des Wortes ein ſolcher, der dem örtlichen Recht nicht unterworfen iſt. Sie hat zu ihrer zweiten Vorausſetzung, daß der Aufenthalt durch den Lebenszweck des An- kommenden bedingt werde; das iſt ihre wirthſchaftliche Seite. Sie macht aber, wo ſie vollzogen iſt, den letztern zu einem Gliede der Geſammt- heit, in welche er einwandert, das iſt zu einem Angehörigen des Staats und zu einem Mitgliede ſeiner geſellſchaftlichen Ordnung. Wäh- rend daher der Fremde nur örtlich und zeitlich in den Verband von Staat und Geſellſchaft tritt, der ſich Niederlaſſende nur wirthſchaft- lich ein Theil derſelben wird, wird es der Einwandernde mit ſeinem ganzen ſtaatlichen und ſocialen Leben. Darin beſteht das Weſen der Einwanderung. Und eben dadurch iſt es klar, daß dieſelbe nicht ein- ſeitig von ihm abhängig ſein kann, ſondern naturgemäß von Staat und Geſellſchaft abhängig iſt. Wir reden daher von Fremden und Fremdenrecht, von Niederlaſſungen und Niederlaſſungs- recht, und von Einwanderung und Einwanderungsrecht, und es iſt wohl einleuchtend, daß nicht bloß dieſe Rechte an ſich ſehr ver- ſchieden ſind, ſondern auch in der Verwaltung eine weſentlich verſchie- dene Stellung einnehmen. Da nun die Einwanderung, wie geſagt, weſentlich von dem neuen Staat und ſeiner Geſellſchaft abhängt, ſo iſt es wohl klar, daß es

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866, S. 169. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre02_1866/191>, abgerufen am 19.03.2024.