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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866.

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V. Das Auswanderungswesen der staatsbürgerlichen Gesellschaft, oder
die freie Auswanderung.

(Begriff und gesellschaftlicher Charakter der freien Auswanderung. Was
das freie Auswanderungsrecht bedeutet. Entstehung und Entwicklung der Sorge
für die Auswanderung.)

Mit der staatsbürgerlichen Gesellschaftsordnung siegt nun auf allen
Punkten das Princip der freien Selbstbestimmung des Einzelnen über
die Schranken, welche die gesellschaftliche Ordnung derselben gesetzt hat.
Wie der Beruf, die Religion, das Gewerbe, so wird jetzt auch das
Angehören an den eignen Staatsverband grundsätzlich frei. Der Staat
ist jetzt nicht mehr der Herr und Vormund seiner Angehörigen, sondern
er ist ihre Einheit; das Verlassen der Einheit wird damit Sache des
Einzelnen; und dieser Grundsatz ist der des freien Auswanderungs-
rechts
.

Allein diese Freiheit ist als bloße Aufhebung der bisherigen recht-
lichen Beschränkungen nur ein negativer Begriff. Die wirkliche Aus-
wanderung hat jetzt wie immer ihre positiven Grundlagen, und diese
liegen hier wie immer in den gesellschaftlichen Verhältnissen. Sie be-
rührt aber außerdem als ein völliges Aufheben der Gesammtbeziehungen
des persönlichen und wirthschaftlichen Lebens die Gemeinschaft, die der
Auswanderer verläßt, und wird dadurch zu einem öffentlichen Akte.
Der Staat kann und soll sie daher nicht hindern; aber er muß auch
bei der vollen Freiheit der Auswanderung die rechtlichen Bedingungen
festsetzen, durch welche sie in der Weise geordnet wird, daß sie nicht zu
einer Verletzung der öffentlichen Interessen wird. Und so entsteht das,
was wir das Auswanderungsrecht nennen. Endlich aber greift
sie selbst so tief in diese Gesammtinteressen hinein, daß sie als solche
ein Gegenstand der Verwaltung wird; und damit entwickelt sich aus der
rein negativen Freiheit der Auswanderung ein eigenthümliches System
der Sorge für dieselbe, das sich zu einer großen und wichtigen Gesetz-
gebung entfaltet hat. Man kann daher gewiß mit Recht sagen, daß
die staatsbürgerliche Gesellschaftsordnung schon jetzt ihr eignes und
eigenthümliches System des Auswanderungswesens erzeugt hat, das wir
jetzt kurz darzustellen haben.

Nur ist dasselbe eben so wenig wie die früheren Systeme plötzlich
entstanden, noch auch ist es als ein vollständig abgeschlossenes zu betrach-
ten. Es hat im Gegentheil keinen unwesentlichen Werth, den Gang der
Theorie wie den der Gesetzgebung in dieser Beziehung genauer zu
beobachten.

Es ist wohl kein Zweifel, daß die theoretische Auffassung des Aus-

V. Das Auswanderungsweſen der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft, oder
die freie Auswanderung.

(Begriff und geſellſchaftlicher Charakter der freien Auswanderung. Was
das freie Auswanderungsrecht bedeutet. Entſtehung und Entwicklung der Sorge
für die Auswanderung.)

Mit der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaftsordnung ſiegt nun auf allen
Punkten das Princip der freien Selbſtbeſtimmung des Einzelnen über
die Schranken, welche die geſellſchaftliche Ordnung derſelben geſetzt hat.
Wie der Beruf, die Religion, das Gewerbe, ſo wird jetzt auch das
Angehören an den eignen Staatsverband grundſätzlich frei. Der Staat
iſt jetzt nicht mehr der Herr und Vormund ſeiner Angehörigen, ſondern
er iſt ihre Einheit; das Verlaſſen der Einheit wird damit Sache des
Einzelnen; und dieſer Grundſatz iſt der des freien Auswanderungs-
rechts
.

Allein dieſe Freiheit iſt als bloße Aufhebung der bisherigen recht-
lichen Beſchränkungen nur ein negativer Begriff. Die wirkliche Aus-
wanderung hat jetzt wie immer ihre poſitiven Grundlagen, und dieſe
liegen hier wie immer in den geſellſchaftlichen Verhältniſſen. Sie be-
rührt aber außerdem als ein völliges Aufheben der Geſammtbeziehungen
des perſönlichen und wirthſchaftlichen Lebens die Gemeinſchaft, die der
Auswanderer verläßt, und wird dadurch zu einem öffentlichen Akte.
Der Staat kann und ſoll ſie daher nicht hindern; aber er muß auch
bei der vollen Freiheit der Auswanderung die rechtlichen Bedingungen
feſtſetzen, durch welche ſie in der Weiſe geordnet wird, daß ſie nicht zu
einer Verletzung der öffentlichen Intereſſen wird. Und ſo entſteht das,
was wir das Auswanderungsrecht nennen. Endlich aber greift
ſie ſelbſt ſo tief in dieſe Geſammtintereſſen hinein, daß ſie als ſolche
ein Gegenſtand der Verwaltung wird; und damit entwickelt ſich aus der
rein negativen Freiheit der Auswanderung ein eigenthümliches Syſtem
der Sorge für dieſelbe, das ſich zu einer großen und wichtigen Geſetz-
gebung entfaltet hat. Man kann daher gewiß mit Recht ſagen, daß
die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaftsordnung ſchon jetzt ihr eignes und
eigenthümliches Syſtem des Auswanderungsweſens erzeugt hat, das wir
jetzt kurz darzuſtellen haben.

Nur iſt daſſelbe eben ſo wenig wie die früheren Syſteme plötzlich
entſtanden, noch auch iſt es als ein vollſtändig abgeſchloſſenes zu betrach-
ten. Es hat im Gegentheil keinen unweſentlichen Werth, den Gang der
Theorie wie den der Geſetzgebung in dieſer Beziehung genauer zu
beobachten.

Es iſt wohl kein Zweifel, daß die theoretiſche Auffaſſung des Aus-

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[201/0223] V. Das Auswanderungsweſen der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft, oder die freie Auswanderung. (Begriff und geſellſchaftlicher Charakter der freien Auswanderung. Was das freie Auswanderungsrecht bedeutet. Entſtehung und Entwicklung der Sorge für die Auswanderung.) Mit der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaftsordnung ſiegt nun auf allen Punkten das Princip der freien Selbſtbeſtimmung des Einzelnen über die Schranken, welche die geſellſchaftliche Ordnung derſelben geſetzt hat. Wie der Beruf, die Religion, das Gewerbe, ſo wird jetzt auch das Angehören an den eignen Staatsverband grundſätzlich frei. Der Staat iſt jetzt nicht mehr der Herr und Vormund ſeiner Angehörigen, ſondern er iſt ihre Einheit; das Verlaſſen der Einheit wird damit Sache des Einzelnen; und dieſer Grundſatz iſt der des freien Auswanderungs- rechts. Allein dieſe Freiheit iſt als bloße Aufhebung der bisherigen recht- lichen Beſchränkungen nur ein negativer Begriff. Die wirkliche Aus- wanderung hat jetzt wie immer ihre poſitiven Grundlagen, und dieſe liegen hier wie immer in den geſellſchaftlichen Verhältniſſen. Sie be- rührt aber außerdem als ein völliges Aufheben der Geſammtbeziehungen des perſönlichen und wirthſchaftlichen Lebens die Gemeinſchaft, die der Auswanderer verläßt, und wird dadurch zu einem öffentlichen Akte. Der Staat kann und ſoll ſie daher nicht hindern; aber er muß auch bei der vollen Freiheit der Auswanderung die rechtlichen Bedingungen feſtſetzen, durch welche ſie in der Weiſe geordnet wird, daß ſie nicht zu einer Verletzung der öffentlichen Intereſſen wird. Und ſo entſteht das, was wir das Auswanderungsrecht nennen. Endlich aber greift ſie ſelbſt ſo tief in dieſe Geſammtintereſſen hinein, daß ſie als ſolche ein Gegenſtand der Verwaltung wird; und damit entwickelt ſich aus der rein negativen Freiheit der Auswanderung ein eigenthümliches Syſtem der Sorge für dieſelbe, das ſich zu einer großen und wichtigen Geſetz- gebung entfaltet hat. Man kann daher gewiß mit Recht ſagen, daß die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaftsordnung ſchon jetzt ihr eignes und eigenthümliches Syſtem des Auswanderungsweſens erzeugt hat, das wir jetzt kurz darzuſtellen haben. Nur iſt daſſelbe eben ſo wenig wie die früheren Syſteme plötzlich entſtanden, noch auch iſt es als ein vollſtändig abgeſchloſſenes zu betrach- ten. Es hat im Gegentheil keinen unweſentlichen Werth, den Gang der Theorie wie den der Geſetzgebung in dieſer Beziehung genauer zu beobachten. Es iſt wohl kein Zweifel, daß die theoretiſche Auffaſſung des Aus-

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866, S. 201. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre02_1866/223>, abgerufen am 19.03.2024.