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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866.

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vorzugsweise das gedacht, was man einen juristischen Begriff des Rechts-
staats nennen möchte, einen Zustand nämlich, der nichts enthält, als
einen fertigen Staat als selbständige juristische Persönlichkeit auf der
einen, und den freien Staatsbürger auf der andern Seite, so daß der
Rechtsstaat im Wesentlichen nur noch die juristische Ordnung des Ver-
hältnisses beider zu einander, die Gesammtheit der Grundsätze über die
Unverletzlichkeit des Einen durch den Anderen feststellen solle. Diese
ärmliche Auffassung des Staats gehört indeß nur der neuesten Zeit an,
und ihr Vertreter ist bekanntlich Robert Mohl. Allein in Wahrheit ist
das Verhältniß ein wesentlich andres. Die wahre Idee des Rechtsstaats
ist vielmehr eine höchst großartige und selbst erhabene, und nur durch
das Verständniß dieser Idee wird es begreiflich, wie es für so viele
hochbedeutende, gelehrte und praktische Männer möglich war, der Ver-
waltung, des zweiten großen Theiles aller Staatswissenschaft, während
fünfzig Jahren hindurch in einer Literatur zu vergessen, die doch auch
ihrerseits eine eben so reiche als mächtige gewesen.

5) Die drei Grundformen der Auffassung des Rechtsstaats.

Die große Frage über den Staat und seinen organischen Inhalt
war bekanntlich in der germanischen Welt aus der Frage entstanden,
woher der Staat als persönliche Gemeinschaft des Einzelnen die sittliche
Berechtigung nehme, den an sich freien Einzelnen zu bestimmen und
ihn sich zu unterwerfen. Die Theorie des Hobbes hatte diese Berechti-
gung durch die Noth erklärt, welche aus dem Kriege Aller gegen Alle
entstand. Der Wohlfahrtsstaat gab dem Staat dieselbe im Namen des
allgemeinen Fortschrittes. Mit der staatsbürgerlichen Gesellschaft tritt
aber der Gedanke auf, daß das Wesen des Einzelnen die freie Selbst-
bestimmung, also das grade Gegentheil der über den Einzelnen
herrschenden Staatsgewalt sei. Diese freie Selbstbestimmung der ein-
zelnen Persönlichkeit konnte die neue Zeit unter keiner Bedingung auf-
geben. Eben so unmöglich war es, den Staat mit seinem Recht auf
Herrschaft zu beseitigen. Es galt daher jetzt, beide großen Elemente zu
vereinigen. Und jetzt tritt eine Arbeit ein, die in drei großen Formen
sich bewegt, und die damit die drei Grundgedanken des sog. Rechts-
staats abgiebt.

Die erste Form ist die, daß der Staat dieß Recht der Herrschaft
über den selbständigen Einzelnen dadurch gewinnt, daß der Wille des
Staats selbst eben nichts anderes ist, als der gemeinsame Wille aller
Einzelnen. Diese Gemeinsamkeit des Willens ist es, welche den Wider-
spruch zwischen Staatsherrschaft und bürgerlicher Freiheit läßt. Der

vorzugsweiſe das gedacht, was man einen juriſtiſchen Begriff des Rechts-
ſtaats nennen möchte, einen Zuſtand nämlich, der nichts enthält, als
einen fertigen Staat als ſelbſtändige juriſtiſche Perſönlichkeit auf der
einen, und den freien Staatsbürger auf der andern Seite, ſo daß der
Rechtsſtaat im Weſentlichen nur noch die juriſtiſche Ordnung des Ver-
hältniſſes beider zu einander, die Geſammtheit der Grundſätze über die
Unverletzlichkeit des Einen durch den Anderen feſtſtellen ſolle. Dieſe
ärmliche Auffaſſung des Staats gehört indeß nur der neueſten Zeit an,
und ihr Vertreter iſt bekanntlich Robert Mohl. Allein in Wahrheit iſt
das Verhältniß ein weſentlich andres. Die wahre Idee des Rechtsſtaats
iſt vielmehr eine höchſt großartige und ſelbſt erhabene, und nur durch
das Verſtändniß dieſer Idee wird es begreiflich, wie es für ſo viele
hochbedeutende, gelehrte und praktiſche Männer möglich war, der Ver-
waltung, des zweiten großen Theiles aller Staatswiſſenſchaft, während
fünfzig Jahren hindurch in einer Literatur zu vergeſſen, die doch auch
ihrerſeits eine eben ſo reiche als mächtige geweſen.

5) Die drei Grundformen der Auffaſſung des Rechtsſtaats.

Die große Frage über den Staat und ſeinen organiſchen Inhalt
war bekanntlich in der germaniſchen Welt aus der Frage entſtanden,
woher der Staat als perſönliche Gemeinſchaft des Einzelnen die ſittliche
Berechtigung nehme, den an ſich freien Einzelnen zu beſtimmen und
ihn ſich zu unterwerfen. Die Theorie des Hobbes hatte dieſe Berechti-
gung durch die Noth erklärt, welche aus dem Kriege Aller gegen Alle
entſtand. Der Wohlfahrtsſtaat gab dem Staat dieſelbe im Namen des
allgemeinen Fortſchrittes. Mit der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft tritt
aber der Gedanke auf, daß das Weſen des Einzelnen die freie Selbſt-
beſtimmung, alſo das grade Gegentheil der über den Einzelnen
herrſchenden Staatsgewalt ſei. Dieſe freie Selbſtbeſtimmung der ein-
zelnen Perſönlichkeit konnte die neue Zeit unter keiner Bedingung auf-
geben. Eben ſo unmöglich war es, den Staat mit ſeinem Recht auf
Herrſchaft zu beſeitigen. Es galt daher jetzt, beide großen Elemente zu
vereinigen. Und jetzt tritt eine Arbeit ein, die in drei großen Formen
ſich bewegt, und die damit die drei Grundgedanken des ſog. Rechts-
ſtaats abgiebt.

Die erſte Form iſt die, daß der Staat dieß Recht der Herrſchaft
über den ſelbſtändigen Einzelnen dadurch gewinnt, daß der Wille des
Staats ſelbſt eben nichts anderes iſt, als der gemeinſame Wille aller
Einzelnen. Dieſe Gemeinſamkeit des Willens iſt es, welche den Wider-
ſpruch zwiſchen Staatsherrſchaft und bürgerlicher Freiheit läßt. Der

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[24/0046] vorzugsweiſe das gedacht, was man einen juriſtiſchen Begriff des Rechts- ſtaats nennen möchte, einen Zuſtand nämlich, der nichts enthält, als einen fertigen Staat als ſelbſtändige juriſtiſche Perſönlichkeit auf der einen, und den freien Staatsbürger auf der andern Seite, ſo daß der Rechtsſtaat im Weſentlichen nur noch die juriſtiſche Ordnung des Ver- hältniſſes beider zu einander, die Geſammtheit der Grundſätze über die Unverletzlichkeit des Einen durch den Anderen feſtſtellen ſolle. Dieſe ärmliche Auffaſſung des Staats gehört indeß nur der neueſten Zeit an, und ihr Vertreter iſt bekanntlich Robert Mohl. Allein in Wahrheit iſt das Verhältniß ein weſentlich andres. Die wahre Idee des Rechtsſtaats iſt vielmehr eine höchſt großartige und ſelbſt erhabene, und nur durch das Verſtändniß dieſer Idee wird es begreiflich, wie es für ſo viele hochbedeutende, gelehrte und praktiſche Männer möglich war, der Ver- waltung, des zweiten großen Theiles aller Staatswiſſenſchaft, während fünfzig Jahren hindurch in einer Literatur zu vergeſſen, die doch auch ihrerſeits eine eben ſo reiche als mächtige geweſen. 5) Die drei Grundformen der Auffaſſung des Rechtsſtaats. Die große Frage über den Staat und ſeinen organiſchen Inhalt war bekanntlich in der germaniſchen Welt aus der Frage entſtanden, woher der Staat als perſönliche Gemeinſchaft des Einzelnen die ſittliche Berechtigung nehme, den an ſich freien Einzelnen zu beſtimmen und ihn ſich zu unterwerfen. Die Theorie des Hobbes hatte dieſe Berechti- gung durch die Noth erklärt, welche aus dem Kriege Aller gegen Alle entſtand. Der Wohlfahrtsſtaat gab dem Staat dieſelbe im Namen des allgemeinen Fortſchrittes. Mit der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft tritt aber der Gedanke auf, daß das Weſen des Einzelnen die freie Selbſt- beſtimmung, alſo das grade Gegentheil der über den Einzelnen herrſchenden Staatsgewalt ſei. Dieſe freie Selbſtbeſtimmung der ein- zelnen Perſönlichkeit konnte die neue Zeit unter keiner Bedingung auf- geben. Eben ſo unmöglich war es, den Staat mit ſeinem Recht auf Herrſchaft zu beſeitigen. Es galt daher jetzt, beide großen Elemente zu vereinigen. Und jetzt tritt eine Arbeit ein, die in drei großen Formen ſich bewegt, und die damit die drei Grundgedanken des ſog. Rechts- ſtaats abgiebt. Die erſte Form iſt die, daß der Staat dieß Recht der Herrſchaft über den ſelbſtändigen Einzelnen dadurch gewinnt, daß der Wille des Staats ſelbſt eben nichts anderes iſt, als der gemeinſame Wille aller Einzelnen. Dieſe Gemeinſamkeit des Willens iſt es, welche den Wider- ſpruch zwiſchen Staatsherrſchaft und bürgerlicher Freiheit läßt. Der

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866, S. 24. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre02_1866/46>, abgerufen am 19.03.2024.