Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866.

Bild:
<< vorherige Seite

zunächst ganz falsch ist, von der Einwanderung nur einseitig in Beziehung
auf die Thätigkeit und die Absichten der amtlichen Verwaltung zu reden.
Sie wird vielmehr und mit ihr das Fremden- und Niederlassungswesen
von der Stellung abhängen, welche die Selbstverwaltungskörper gegen-
über dem Staate einnehmen. Die Geschichte ihres Rechts ist ein inte-
grirender Theil der innern, organischen Entwicklung des Staats, und
das gegenwärtige Recht kann selbst nur als ein Moment und Theil
dieser Geschichte erkannt werden.

Wir wollen daher versuchen, auf diesem historischen Boden das
Einwanderungswesen bis zur heutigen Zeit zu begleiten, und darnach
die wahre Natur desselben zu bestimmen.

Erste Epoche.

Die Einwanderung und die Geschlechterordnung.

In der Geschlechterordnung besteht der Staat aus der Einheit der
Familien und Geschlechter; diese sind die staatsbürgerlichen Persönlich-
keiten; außerhalb derselben hat der Staat noch gar keine Gewalt, kein
Recht, keine Funktion; es kann daher auch keine Einwanderung in den
Staat geben, sondern dieselbe kann nur erscheinen als die Aufnahme
des Fremden in eines der Geschlechter des Landes. Mit dieser
Aufnahme ist die Einwanderung vollzogen. Jeder, der nicht einem Ge-
schlechte angehört, ist und bleibt fremd; er hat nicht nur kein Recht,
sondern er kann auch kein Gut erwerben. Es gibt daher auch keine
Niederlassung in der Geschlechterordnung, die von der Einwanderung
getrennt wäre und ihr selbständig voraufginge. Es ist dabei gleichgül-
tig, ob ein ganzes Geschlecht in die Reihe der alten aufgenommen wird,
oder ob ein ganzer aus Geschlechtern bestehender Stamm den alten Ge-
schlechtern hinzugefügt wird, wie bei den alten Tities und Luceres in
Rom, oder ob freie Familien bei der Einwanderung in die alten Ge-
schlechter als gleichberechtigt mit den alten Familien aufgenommen wer-
den, wie es in Dithmarschen und wie es auch gewiß in Rom bei den
patricischen Familien der Nachbarstädte geschah, oder ob Halbfreie sich
den Geschlechtern als Clientel einfügen, wie in Rom die clientes oder
gentes zum Theil entstanden, und wie es in manchen alten Städten
Deutschlands der Fall gewesen sein mag. Gewiß ist nur, daß die älte-
sten Einwanderungen stets und bei allen Völkern Geschlechtereinwande-
rungen sind, bei denen die Niederlassung und die Aufnahme in den
Staatsverband durch die Aufnahme in das Geschlecht stattfand. Es ist
nicht ohne Interesse, auch das Fremdenrecht dieser Epoche auf den-
selben Gesichtspunkt zurückzuführen; denn das älteste Fremdenrecht ist

zunächſt ganz falſch iſt, von der Einwanderung nur einſeitig in Beziehung
auf die Thätigkeit und die Abſichten der amtlichen Verwaltung zu reden.
Sie wird vielmehr und mit ihr das Fremden- und Niederlaſſungsweſen
von der Stellung abhängen, welche die Selbſtverwaltungskörper gegen-
über dem Staate einnehmen. Die Geſchichte ihres Rechts iſt ein inte-
grirender Theil der innern, organiſchen Entwicklung des Staats, und
das gegenwärtige Recht kann ſelbſt nur als ein Moment und Theil
dieſer Geſchichte erkannt werden.

Wir wollen daher verſuchen, auf dieſem hiſtoriſchen Boden das
Einwanderungsweſen bis zur heutigen Zeit zu begleiten, und darnach
die wahre Natur deſſelben zu beſtimmen.

Erſte Epoche.

Die Einwanderung und die Geſchlechterordnung.

In der Geſchlechterordnung beſteht der Staat aus der Einheit der
Familien und Geſchlechter; dieſe ſind die ſtaatsbürgerlichen Perſönlich-
keiten; außerhalb derſelben hat der Staat noch gar keine Gewalt, kein
Recht, keine Funktion; es kann daher auch keine Einwanderung in den
Staat geben, ſondern dieſelbe kann nur erſcheinen als die Aufnahme
des Fremden in eines der Geſchlechter des Landes. Mit dieſer
Aufnahme iſt die Einwanderung vollzogen. Jeder, der nicht einem Ge-
ſchlechte angehört, iſt und bleibt fremd; er hat nicht nur kein Recht,
ſondern er kann auch kein Gut erwerben. Es gibt daher auch keine
Niederlaſſung in der Geſchlechterordnung, die von der Einwanderung
getrennt wäre und ihr ſelbſtändig voraufginge. Es iſt dabei gleichgül-
tig, ob ein ganzes Geſchlecht in die Reihe der alten aufgenommen wird,
oder ob ein ganzer aus Geſchlechtern beſtehender Stamm den alten Ge-
ſchlechtern hinzugefügt wird, wie bei den alten Tities und Luceres in
Rom, oder ob freie Familien bei der Einwanderung in die alten Ge-
ſchlechter als gleichberechtigt mit den alten Familien aufgenommen wer-
den, wie es in Dithmarſchen und wie es auch gewiß in Rom bei den
patriciſchen Familien der Nachbarſtädte geſchah, oder ob Halbfreie ſich
den Geſchlechtern als Clientel einfügen, wie in Rom die clientes oder
gentes zum Theil entſtanden, und wie es in manchen alten Städten
Deutſchlands der Fall geweſen ſein mag. Gewiß iſt nur, daß die älte-
ſten Einwanderungen ſtets und bei allen Völkern Geſchlechtereinwande-
rungen ſind, bei denen die Niederlaſſung und die Aufnahme in den
Staatsverband durch die Aufnahme in das Geſchlecht ſtattfand. Es iſt
nicht ohne Intereſſe, auch das Fremdenrecht dieſer Epoche auf den-
ſelben Geſichtspunkt zurückzuführen; denn das älteſte Fremdenrecht iſt

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <div n="7">
                    <div n="8">
                      <p><pb facs="#f0192" n="170"/>
zunäch&#x017F;t ganz fal&#x017F;ch i&#x017F;t, von der Einwanderung nur ein&#x017F;eitig in Beziehung<lb/>
auf die Thätigkeit und die Ab&#x017F;ichten der amtlichen Verwaltung zu reden.<lb/>
Sie wird vielmehr und mit ihr das Fremden- und Niederla&#x017F;&#x017F;ungswe&#x017F;en<lb/>
von der Stellung abhängen, welche die Selb&#x017F;tverwaltungskörper gegen-<lb/>
über dem Staate einnehmen. Die Ge&#x017F;chichte ihres Rechts i&#x017F;t ein inte-<lb/>
grirender Theil der innern, organi&#x017F;chen Entwicklung des Staats, und<lb/>
das gegenwärtige Recht kann &#x017F;elb&#x017F;t nur als ein Moment und Theil<lb/>
die&#x017F;er Ge&#x017F;chichte erkannt werden.</p><lb/>
                      <p>Wir wollen daher ver&#x017F;uchen, auf die&#x017F;em hi&#x017F;tori&#x017F;chen Boden das<lb/>
Einwanderungswe&#x017F;en bis zur heutigen Zeit zu begleiten, und darnach<lb/>
die wahre Natur de&#x017F;&#x017F;elben zu be&#x017F;timmen.</p>
                    </div><lb/>
                    <div n="8">
                      <head><hi rendition="#g">Er&#x017F;te Epoche</hi>.</head><lb/>
                      <argument>
                        <p> <hi rendition="#c">Die Einwanderung und die Ge&#x017F;chlechterordnung.</hi> </p>
                      </argument><lb/>
                      <p>In der Ge&#x017F;chlechterordnung be&#x017F;teht der Staat aus der Einheit der<lb/>
Familien und Ge&#x017F;chlechter; <hi rendition="#g">die&#x017F;e</hi> &#x017F;ind die &#x017F;taatsbürgerlichen Per&#x017F;önlich-<lb/>
keiten; außerhalb der&#x017F;elben hat der Staat noch gar keine Gewalt, kein<lb/>
Recht, keine Funktion; es kann daher auch keine Einwanderung in den<lb/><hi rendition="#g">Staat</hi> geben, &#x017F;ondern die&#x017F;elbe kann nur er&#x017F;cheinen als die Aufnahme<lb/>
des Fremden in eines der <hi rendition="#g">Ge&#x017F;chlechter des Landes. Mit</hi> die&#x017F;er<lb/>
Aufnahme i&#x017F;t die Einwanderung vollzogen. Jeder, der nicht einem Ge-<lb/>
&#x017F;chlechte angehört, i&#x017F;t und bleibt <hi rendition="#g">fremd</hi>; er hat nicht nur kein Recht,<lb/>
&#x017F;ondern er kann auch kein Gut <hi rendition="#g">erwerben</hi>. Es gibt daher auch keine<lb/>
Niederla&#x017F;&#x017F;ung in der Ge&#x017F;chlechterordnung, die von der Einwanderung<lb/>
getrennt wäre und ihr &#x017F;elb&#x017F;tändig voraufginge. Es i&#x017F;t dabei gleichgül-<lb/>
tig, ob ein ganzes Ge&#x017F;chlecht in die Reihe der alten aufgenommen wird,<lb/>
oder ob ein ganzer aus Ge&#x017F;chlechtern be&#x017F;tehender Stamm den alten Ge-<lb/>
&#x017F;chlechtern hinzugefügt wird, wie bei den alten Tities und Luceres in<lb/>
Rom, oder ob freie Familien bei der Einwanderung in die alten Ge-<lb/>
&#x017F;chlechter als gleichberechtigt mit den alten Familien aufgenommen wer-<lb/>
den, wie es in Dithmar&#x017F;chen und wie es auch gewiß in Rom bei den<lb/>
patrici&#x017F;chen Familien der Nachbar&#x017F;tädte ge&#x017F;chah, oder ob Halbfreie &#x017F;ich<lb/>
den Ge&#x017F;chlechtern als Clientel einfügen, wie in Rom die <hi rendition="#aq">clientes</hi> oder<lb/><hi rendition="#aq">gentes</hi> zum Theil ent&#x017F;tanden, und wie es in manchen alten Städten<lb/>
Deut&#x017F;chlands der Fall gewe&#x017F;en &#x017F;ein mag. Gewiß i&#x017F;t nur, daß die älte-<lb/>
&#x017F;ten Einwanderungen &#x017F;tets und bei allen Völkern Ge&#x017F;chlechtereinwande-<lb/>
rungen &#x017F;ind, bei denen die Niederla&#x017F;&#x017F;ung und die Aufnahme in den<lb/>
Staatsverband durch die Aufnahme in das Ge&#x017F;chlecht &#x017F;tattfand. Es i&#x017F;t<lb/>
nicht ohne Intere&#x017F;&#x017F;e, auch das <hi rendition="#g">Fremdenrecht</hi> die&#x017F;er Epoche auf den-<lb/>
&#x017F;elben Ge&#x017F;ichtspunkt zurückzuführen; denn das älte&#x017F;te Fremdenrecht i&#x017F;t<lb/></p>
                    </div>
                  </div>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[170/0192] zunächſt ganz falſch iſt, von der Einwanderung nur einſeitig in Beziehung auf die Thätigkeit und die Abſichten der amtlichen Verwaltung zu reden. Sie wird vielmehr und mit ihr das Fremden- und Niederlaſſungsweſen von der Stellung abhängen, welche die Selbſtverwaltungskörper gegen- über dem Staate einnehmen. Die Geſchichte ihres Rechts iſt ein inte- grirender Theil der innern, organiſchen Entwicklung des Staats, und das gegenwärtige Recht kann ſelbſt nur als ein Moment und Theil dieſer Geſchichte erkannt werden. Wir wollen daher verſuchen, auf dieſem hiſtoriſchen Boden das Einwanderungsweſen bis zur heutigen Zeit zu begleiten, und darnach die wahre Natur deſſelben zu beſtimmen. Erſte Epoche. Die Einwanderung und die Geſchlechterordnung. In der Geſchlechterordnung beſteht der Staat aus der Einheit der Familien und Geſchlechter; dieſe ſind die ſtaatsbürgerlichen Perſönlich- keiten; außerhalb derſelben hat der Staat noch gar keine Gewalt, kein Recht, keine Funktion; es kann daher auch keine Einwanderung in den Staat geben, ſondern dieſelbe kann nur erſcheinen als die Aufnahme des Fremden in eines der Geſchlechter des Landes. Mit dieſer Aufnahme iſt die Einwanderung vollzogen. Jeder, der nicht einem Ge- ſchlechte angehört, iſt und bleibt fremd; er hat nicht nur kein Recht, ſondern er kann auch kein Gut erwerben. Es gibt daher auch keine Niederlaſſung in der Geſchlechterordnung, die von der Einwanderung getrennt wäre und ihr ſelbſtändig voraufginge. Es iſt dabei gleichgül- tig, ob ein ganzes Geſchlecht in die Reihe der alten aufgenommen wird, oder ob ein ganzer aus Geſchlechtern beſtehender Stamm den alten Ge- ſchlechtern hinzugefügt wird, wie bei den alten Tities und Luceres in Rom, oder ob freie Familien bei der Einwanderung in die alten Ge- ſchlechter als gleichberechtigt mit den alten Familien aufgenommen wer- den, wie es in Dithmarſchen und wie es auch gewiß in Rom bei den patriciſchen Familien der Nachbarſtädte geſchah, oder ob Halbfreie ſich den Geſchlechtern als Clientel einfügen, wie in Rom die clientes oder gentes zum Theil entſtanden, und wie es in manchen alten Städten Deutſchlands der Fall geweſen ſein mag. Gewiß iſt nur, daß die älte- ſten Einwanderungen ſtets und bei allen Völkern Geſchlechtereinwande- rungen ſind, bei denen die Niederlaſſung und die Aufnahme in den Staatsverband durch die Aufnahme in das Geſchlecht ſtattfand. Es iſt nicht ohne Intereſſe, auch das Fremdenrecht dieſer Epoche auf den- ſelben Geſichtspunkt zurückzuführen; denn das älteſte Fremdenrecht iſt

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre02_1866
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre02_1866/192
Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866, S. 170. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre02_1866/192>, abgerufen am 19.04.2024.