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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866.

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Verhältniß zwischen Amt und Selbstverwaltung, oder namentlich der
Gemeinde, gesucht werden muß.

In der That werden wir für Deutschland nie zu einem richtigen
und einfachen Verständniß der Verwaltungsordnung der Bevölkerung,
und namentlich des Gemeindebürgerthums und des Heimathsrechts im
Besondern gelangen, wenn wir nicht den so tiefgehenden Unterschied
der deutschen Gemeinde von der französischen und englischen, und das
sich daraus ergebende Verhältniß zum Amt, mit dem Amt aber zu Com-
petenz und Zuständigkeit feststellen.

Während nämlich die englische Gemeinde eine Verwaltungsgemeinde,
die französische ein Amtsbezirk ist, ist die deutsche Gemeinde eine Orts-
gemeinde
, das ist eine örtliche Selbstverwaltung aller innern Ver-
waltungsaufgaben.

Es ist daher die deutsche Ortsgemeinde ein örtliches Ganze, welches
wenigstens seinem Wesen nach alle im Wesen des Amts liegenden Auf-
gaben durch die Gemeinde vollzieht. Und es ergibt sich daraus, daß
in Deutschland wenigstens principiell die Gemeindeangehörigkeit eine
viel umfassendere Bedeutung hat, als dieß in England und Frank-
reich der Fall ist und sein kann. Denn die deutsche Gemeindeange-
hörigkeit ist in diesem Sinne nicht bloß ein Gemeindebürgerrecht und
ein Heimathsrecht, sondern sie enthält daneben zugleich die Competenz
der Gemeinde und die Zuständigkeit der Angehörigkeiten für alle amt-
lichen Aufgaben
, welche durch die Gemeinde vollzogen werden.

Es ist wohl selbstverständlich, daß sich daraus zunächst zwei Con-
sequenzen ergeben haben.

Zuerst mußte jene viel größere Bedeutung der deutschen Gemeinde-
angehörigkeit eine viel tiefer eingehende und weitläuftige Publicistik,
eine viel speziellere juristische Literatur erzeugen, als dieß in England
und Frankreich der Fall sein konnte. Und dieß ist bekanntlich auch
nach allen Seiten hin eingetreten.

Dann aber mußte sich aus jener amtlichen Stellung der deutschen
Gemeinde, welche zugleich Obrigkeit und Selbstverwaltung, und in
vielen Fällen ja sogar ein kleiner Souverän war, ein beständiger Kampf
mit der sich entwickelnden amtlichen Organisation und Ver-
waltung
hinaus bilden. In diesem Kampfe nahm dann natürlich
die Gemeindeangehörigkeit einen ganz andern Charakter an, als in
England und Frankreich. Indem sich nämlich die amtliche Thätigkeit
nicht wie in England zuletzt bloß auf die richterliche Function zurückzog,
und auch nicht umgekehrt wie in Frankreich die Selbstthätigkeit der Ge-
meinde vernichtete und in sich aufnahm, ward die Bestimmung über
die Gemeindeangehörigkeit überhaupt die Gränzbestimmung für das

Verhältniß zwiſchen Amt und Selbſtverwaltung, oder namentlich der
Gemeinde, geſucht werden muß.

In der That werden wir für Deutſchland nie zu einem richtigen
und einfachen Verſtändniß der Verwaltungsordnung der Bevölkerung,
und namentlich des Gemeindebürgerthums und des Heimathsrechts im
Beſondern gelangen, wenn wir nicht den ſo tiefgehenden Unterſchied
der deutſchen Gemeinde von der franzöſiſchen und engliſchen, und das
ſich daraus ergebende Verhältniß zum Amt, mit dem Amt aber zu Com-
petenz und Zuſtändigkeit feſtſtellen.

Während nämlich die engliſche Gemeinde eine Verwaltungsgemeinde,
die franzöſiſche ein Amtsbezirk iſt, iſt die deutſche Gemeinde eine Orts-
gemeinde
, das iſt eine örtliche Selbſtverwaltung aller innern Ver-
waltungsaufgaben.

Es iſt daher die deutſche Ortsgemeinde ein örtliches Ganze, welches
wenigſtens ſeinem Weſen nach alle im Weſen des Amts liegenden Auf-
gaben durch die Gemeinde vollzieht. Und es ergibt ſich daraus, daß
in Deutſchland wenigſtens principiell die Gemeindeangehörigkeit eine
viel umfaſſendere Bedeutung hat, als dieß in England und Frank-
reich der Fall iſt und ſein kann. Denn die deutſche Gemeindeange-
hörigkeit iſt in dieſem Sinne nicht bloß ein Gemeindebürgerrecht und
ein Heimathsrecht, ſondern ſie enthält daneben zugleich die Competenz
der Gemeinde und die Zuſtändigkeit der Angehörigkeiten für alle amt-
lichen Aufgaben
, welche durch die Gemeinde vollzogen werden.

Es iſt wohl ſelbſtverſtändlich, daß ſich daraus zunächſt zwei Con-
ſequenzen ergeben haben.

Zuerſt mußte jene viel größere Bedeutung der deutſchen Gemeinde-
angehörigkeit eine viel tiefer eingehende und weitläuftige Publiciſtik,
eine viel ſpeziellere juriſtiſche Literatur erzeugen, als dieß in England
und Frankreich der Fall ſein konnte. Und dieß iſt bekanntlich auch
nach allen Seiten hin eingetreten.

Dann aber mußte ſich aus jener amtlichen Stellung der deutſchen
Gemeinde, welche zugleich Obrigkeit und Selbſtverwaltung, und in
vielen Fällen ja ſogar ein kleiner Souverän war, ein beſtändiger Kampf
mit der ſich entwickelnden amtlichen Organiſation und Ver-
waltung
hinaus bilden. In dieſem Kampfe nahm dann natürlich
die Gemeindeangehörigkeit einen ganz andern Charakter an, als in
England und Frankreich. Indem ſich nämlich die amtliche Thätigkeit
nicht wie in England zuletzt bloß auf die richterliche Function zurückzog,
und auch nicht umgekehrt wie in Frankreich die Selbſtthätigkeit der Ge-
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[308/0330] Verhältniß zwiſchen Amt und Selbſtverwaltung, oder namentlich der Gemeinde, geſucht werden muß. In der That werden wir für Deutſchland nie zu einem richtigen und einfachen Verſtändniß der Verwaltungsordnung der Bevölkerung, und namentlich des Gemeindebürgerthums und des Heimathsrechts im Beſondern gelangen, wenn wir nicht den ſo tiefgehenden Unterſchied der deutſchen Gemeinde von der franzöſiſchen und engliſchen, und das ſich daraus ergebende Verhältniß zum Amt, mit dem Amt aber zu Com- petenz und Zuſtändigkeit feſtſtellen. Während nämlich die engliſche Gemeinde eine Verwaltungsgemeinde, die franzöſiſche ein Amtsbezirk iſt, iſt die deutſche Gemeinde eine Orts- gemeinde, das iſt eine örtliche Selbſtverwaltung aller innern Ver- waltungsaufgaben. Es iſt daher die deutſche Ortsgemeinde ein örtliches Ganze, welches wenigſtens ſeinem Weſen nach alle im Weſen des Amts liegenden Auf- gaben durch die Gemeinde vollzieht. Und es ergibt ſich daraus, daß in Deutſchland wenigſtens principiell die Gemeindeangehörigkeit eine viel umfaſſendere Bedeutung hat, als dieß in England und Frank- reich der Fall iſt und ſein kann. Denn die deutſche Gemeindeange- hörigkeit iſt in dieſem Sinne nicht bloß ein Gemeindebürgerrecht und ein Heimathsrecht, ſondern ſie enthält daneben zugleich die Competenz der Gemeinde und die Zuſtändigkeit der Angehörigkeiten für alle amt- lichen Aufgaben, welche durch die Gemeinde vollzogen werden. Es iſt wohl ſelbſtverſtändlich, daß ſich daraus zunächſt zwei Con- ſequenzen ergeben haben. Zuerſt mußte jene viel größere Bedeutung der deutſchen Gemeinde- angehörigkeit eine viel tiefer eingehende und weitläuftige Publiciſtik, eine viel ſpeziellere juriſtiſche Literatur erzeugen, als dieß in England und Frankreich der Fall ſein konnte. Und dieß iſt bekanntlich auch nach allen Seiten hin eingetreten. Dann aber mußte ſich aus jener amtlichen Stellung der deutſchen Gemeinde, welche zugleich Obrigkeit und Selbſtverwaltung, und in vielen Fällen ja ſogar ein kleiner Souverän war, ein beſtändiger Kampf mit der ſich entwickelnden amtlichen Organiſation und Ver- waltung hinaus bilden. In dieſem Kampfe nahm dann natürlich die Gemeindeangehörigkeit einen ganz andern Charakter an, als in England und Frankreich. Indem ſich nämlich die amtliche Thätigkeit nicht wie in England zuletzt bloß auf die richterliche Function zurückzog, und auch nicht umgekehrt wie in Frankreich die Selbſtthätigkeit der Ge- meinde vernichtete und in ſich aufnahm, ward die Beſtimmung über die Gemeindeangehörigkeit überhaupt die Gränzbeſtimmung für das

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866, S. 308. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre02_1866/330>, abgerufen am 29.03.2024.